"Ich habe schon manchmal das Gefühl, von anderen weniger ernst genommen zu werden. Vielleicht, weil wir nicht auf Augenhöhe miteinander sind", sagt die 28-Jährige über ihren Alltag in einer Welt, in der alles auf "normalgroße" Menschen ausgerichtet ist. Hürden gibt es da für Janina Nagel täglich, zum Beispiel im Supermarkt: Aktuell gilt in vielen Geschäften die Einkaufswagenpflicht, um einen Überblick über die KundInnenanzahl zu bewahren. "Der Sinn ist ja eh cool. Nur, für mich ist es extrem anstrengend, einen Einkaufswagen durch das Geschäft zu navigieren." Das würde nicht selten auf Unverständnis stoßen: "Eine klassische Behinderung assoziieren viele immer noch mit dem Rollstuhl." Dabei ist Barrierefreiheit auch für kleinere Menschen ein allgegenwärtiges Thema: unerreichbare Regale im Laden, zu hohe Geldautomaten, Türgriffe und Lichtschalter – der nächste Stolperstein ist nie weit. Weil Janina oft aber keine Kraft (mehr) hat, die Leute aufzuklären, benutzt sie am Ende meist das Wagerl.
Die Deutsche misst 1,30 Meter und gilt damit als kleinwüchsig. "Kleinwuchs" ist allerdings keine eigene Diagnose, sondern immer Folge einer Erkrankung. Hunderte verschiedene Kleinwuchs-Formen gibt es. Die von Janina ist die genetisch bedingte Achondroplasie. Arme und Beine sind dabei stark verkürzt.
Aufgewachsen ist Janina in einem 13.000-Seelen-Städtchen in Bayern. Wie viele Menschen mit Behinderung erlebte sie nicht als Kind, sondern erst später als Jugendliche bewusst die Ausgrenzung: "In meiner Heimatstadt kannte mich jeder." Ihre Mutter war dort Lehrerin, sie selbst ständig präsent: "Da wurde ich nicht angeschaut! Außerdem war ich schon immer sehr extrovertiert, hatte überall nach ein, zwei Tagen Anschluss." Wenn doch mal ein blöder Spruch fiel, konterte die Fränkin schlagfertig ... oder konnte sich auf ihre ältere Schwester verlassen.
Selbstbewusst, schlagfertig – und trotzdem ausgegrenzt
Später musste die Fitness-Influencerin wegen Mobbing dann die Schule wechseln: "Ich habe mich furchtbar schwach gefühlt. Das ist man in dem Moment ja auch." Ihre Eltern hätten dabei aber fast mehr gelitten als sie: "Ich habe nach und nach daraus gelernt. Man wächst da hinein. Ich hatte ja kein Problem. Diese Situation war nicht mein Fehler!"
Ein charakteristische Aussage für Janina. In all ihren Worten schwingt eine unfassbare Nachsicht und Geduld für ihre Umgebung mit. Sie glaubt immer an das Gute. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie nach der Matura "Hals über Kopf" zu ihrem ersten Freund nach Heidelberg gezogen ist. Die Beziehung hielt nicht. Die Trennung führte sie allerdings weiter nach Berlin. Eine Art Befreiungsschlag, wie sie heute sagt: "Berlin ist schon ein Schutzschild. In der großen Stadt bin ich nicht der einzige schräge Vogel in der S-Bahn", lacht sie.
Trotzdem würden auch in der deutschen Hauptstadt schiefe Blicke und abschätzige Kommentare nicht ausbleiben. "Ich sehe das aber gar nicht so kritisch", sagt Janina. Die Leute seien einfach unwissend: "Menschen glauben beispielsweise tatsächlich, das 'Liliputaner' der richtige Ausdruck ist und geben diese Info mit einer Selbstverständlichkeit an ihre Kinder weiter – neben mir." An guten Tagen grätscht Janina dann nett dazwischen. Sie will aufklären. Freundlich, aber bestimmt.
Überhaupt würde sich die 28-Jährige wünschen, dass die Menschen offener wären, dass sie die gängigen Ideale der Gesellschaft hinterfragen würden: "Anders ist ja nicht gleich schlecht!" Oft verstehe sie dann auch dieses "falsche Schamgefühl" ihrer Mitmenschen nicht. Deshalb freut sich Janina umso mehr über Eltern, die ihren Nachwuchs dazu animieren, direkt bei ihr nachzufragen, wenn sie etwas über ihre Körpergröße wissen wollen.
Der Schritt zur Influencerin (und damit in die Öffentlichkeit) war also vielleicht einfach ein logischer. Auch, wenn es "gar nicht strukturiert" passiert ist. Janina markierte eine Bikini-Brand auf einem ihrer Bilder. Dir Firma teilte das Foto daraufhin auf ihrem Kanal. "Mein Bild bekam dreimal mehr Likes als die anderen Postings der Marke!" Das Feedback war wahnsinnig positiv. "Endlich mal ein normaler Körper!" Daraus entwickelte sich ihre erste Kooperation, die bis heute hält.
Auf Social Media melden sich seither viele "normalwüchsige" Eltern kleinwüchsiger Kinder bei der Sportbegeisterten. "Es gibt ja kaum Einträge im Internet und es ist ultraschwer, zu anderen Kleinwüchsigen privat Kontakt herzustellen." Ihr Account gibt vielen Mut: "Das hat zusätzlich meine Motivation geweckt. Ich kann Menschen wirklich eine Stütze sein, Schritt für Schritt. Deshalb will ich mehr Echtheit zeigen!" Dadurch, dass Instagram so anonym ist, falle ihr die ständige Präsenz auch nicht schwer: "Live würde ich wohl kaum vor Tausenden Leuten Monologe halte", grinst Janina.
Ob sie manchmal trotzdem gerne größer wäre? "Als Kind hatte ich ziemlich krumme Beine. Als die operativ korrigiert wurden, führten die ÄrztInnen gleichzeitig eine Verlängerung durch. Für diese Entscheidung bin ich meinen Eltern sehr dankbar!" Später dachte sie teilweise daran, sich erneut unters Messer zu legen. Grund dafür wären unter anderem negative Dating-Erfahrungen gewesen: "Eine Affäre sagte zum Beispiel einmal zu mir, dass er sich fürs Leben dann doch eine Frau wünschen würde, die normal groß ist." Gedanken, etwas ändern zu wollen oder besser ins Bild zu passen, seien da nur natürlich. "Irgendwann habe ich aber gecheckt, dass ich gar nicht für mich größer sein will. Ich akzeptiere mich ja so, wie ich bin!"
Heute lebt sie nach zwei Beziehungen mit kleinwüchsigen Männern mit einem "normalwüchsigen" Partner zusammen. "Ich war bei meinem jetzigen Freund anfangs dann schon auch skeptisch!" Durch ihn hätte sie aber erst gemerkt, wie unwichtig die äußeren Umstände sind, wenn man sich liebt: "Da habe ich auch selber gebraucht. Bei meinen Ex-Freunden hieß es immer 'Oh süüüß, das haben sich Zwei gefunden!' Na warum wohl? Nur weil zwei Menschen eine Brille tagen, sind sie auch noch lange nicht füreinander geschaffen."
"Es gibt Kleinwüchsige politisch engagiert sind, Kleinwüchsige, die gerne kochen, Menschen mit Kleinwuchs, die gerne Gewichte heben", das will Janina damit vermitteln. Sie wünscht sich eine Gesellschaft, in der wir uns nicht nur tolerieren und akzeptieren, sondern vor allem respektieren. Ausgrenzung und Hass sollten keinen Platz haben. Diversität sollte als Chance genutzt werden. Und Unterschiede endlich gefeiert werden. Ganz besonders. Ganz normal.
Der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien (BKMF) vertritt seit 1988 die Interessen der Menschen mit Wachstumsstörungen, von denen zurzeit rund 3.500 Betroffene und Angehörige mit insgesamt 90 unterschiedlichen Kleinwuchsformen in unserem Verband organisiert sind. Er bemüht sich sowohl um die Sicherstellung einer bestmöglichen medizinischen Versorgung als auch um die psychosoziale Stärkung kleinwüchsiger Menschen, um ihre Integration in die Gesellschaft und den Abbau von Vorurteilen.
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