Wenn Martina an ihre Mutter denkt, denkt sie an die vielen Herabwürdigungen, die sie erdulden musste. Vor drei Jahren entschied sie sich zu einem radikalen Schritt: Sie brach den Kontakt komplett ab.
"Endlich bin ich voll und ganz bei mir." – "Mein Leben ist ruhiger geworden." – "Alles fühlt sich so viel leichter an." Es sind Sätze, die in unserem Interview mit Martina (Name von der Redaktion geändert), 42, mehrmals fallen. Sätze, die erahnen lassen, von wie viel Schwere, Belastungen und Problemen ihre Vergangenheit geprägt gewesen sein muss. Es war ein einziger Mensch, der ihr das Leben bis vor drei Jahren zur Hölle gemacht hat: ihre eigene Mutter.
"Sie hat es geliebt, mich vor anderen bloßzustellen und sie auf meine Kosten zum Lachen zu bringen. Als Kind hatte ich eine Lese- und Rechtschreibschwäche und kann mich noch erinnern, was für eine große Freude sie daran hatte, mich bei ihren unzähligen Matinées in die Mitte des Raumes zu platzieren und ihren Freunden vorlesen zu lassen. Wenn ich dann Fehler machte, hat sie sich daran ergötzt", erzählt die Angestellte über Erlebnisse in ihrer Kindheit. Martinas Mutter ist Narzisstin. "Meine Psychologin hat mir das so erklärt: Meine Mutter spürt im inneren einen Mangel und eine tiefe Leere, die sie versucht, zu füllen, indem sie andere klein macht. Dadurch fühlt sie sich erhaben und allmächtig."
Auch Psychologin und Psychotherapeutin Johanna Böhm-Schöller weiß: "Das Charakteristische eines Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist, dass er oder sie ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen muss und über einen Mangel von Empathie verfügt. Die Kinder werden nicht als eigenständige Menschen, sondern als Erweiterung der eigenen Person gesehen.
Dies zeigt sich durch Grenzüberschreitungen, indem die Gefühle des Kindes nicht beachtet werden. In Anwesenheit des Kindes wird über dessen Schwächen gesprochen, als wäre es nicht da und die Mutter oder der Vater stehen im Zentrum als HeldIn, MärtyrerIn oder Spaßvogel. All das machen die Mutter oder der Vater ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sehr sie ihr Kind damit beschämen oder in Verlegenheit bringen. Der Nachwuchs wird als Stabilisator für das eigene schlechte Selbstbild gesehen und benützt. Ihre Gedanken kreisen vorzugsweise nur um sich selbst, andere Menschen oder die Kinder sind insofern wichtig, als sie bestimmte Funktionen erfüllen."
Die Kindheit mit einer narzisstischen Mutter: Zwischen Vernachlässigung und dem Gefühl, unerwünscht zu sein.
Aufgewachsen ist Martina großteils bei ihren Großeltern. "Gleich nach meiner Geburt haben sie mich zu sich genommen und wie ihr eigenes Kind aufgezogen. Sie haben mich mit Liebe und Geborgenheit überschüttet - ihnen habe ich alles zu verdanken." Ihre Mutter selbst zeigte kaum Interesse an ihr. "Sie ist während Ihrer Schwangerschaft draufgekommen, dass ihr Plan, meinen Vater mit mir an sich zu binden, nicht aufgeht. Daher war das 'Projekt Kind' für sie nicht mehr wirklich relevant. Sie kam die ersten Monate gar nicht vorbei, war in Indien und sonst wo auf Selbstfindung und besuchte mich dann eigentlich immer wieder nur sporadisch und unangemeldet."
Als Martina 4 Jahre alt war, nahm sie ihre Mutter an den Wochenenden zu sich - natürlich nur, wenn es ihr beliebte." Erinnerungen, die Martina gerne verdrängt: "Ich fühlte mich bei ihr überhaupt nicht wohl. Manchmal ist sie mit ihren Freundinnen essen gegangen und dann noch in Bars. An solchen Abenden hat sie mir eine Scheibe Toast, Butter und ein Blatt Schinken in der Küche rausgelegt. Ich kann mich noch genau an das erste Mal erinnern. Ich war fünf und allein zuhause, als draußen ein Gewitter losging und ich unglaubliche Angst hatte."
Psychologin Böhm-Schöller kann die Gefühle von Martina gut nachvollziehen: "Kindern von narzisstischen Eltern fehlt das Vertrauen in eine sichere und geborgene Beziehung, sie können daher keinen gesunden Selbstwert und Vertrauen in die eigene Wahrnehmung aufbauen. Aus Angst nicht geliebt zu werden, nehmen die Kinder sehr viel in Kauf um von Mutter oder Vater gesehen zu werden.
Starke Schuldgefühle, ausgeprägter Perfektionismus, Neigung zu Depressionen und Angststörungen sowie Süchten können die Folgen einer narzisstischen Elternbeziehung sein, vor allem wenn es keinen Ausgleich durch liebevolle Großeltern, Tanten, Onkel oder Schule gibt, die dem Kind Sicherheit und Selbstvertrauen vermitteln." Und auch Martina bestätigt: "Meine Oma und mein Opa haben den Rückhalt und die Stabilität gegeben, die ich gebraucht habe. Dass ich psychisch einigermaßen unbeschadet davon gekommen bin, ist definitiv ihr Verdienst."
Viele weitere Bosheiten und schließlich der Befreiungsschlag: Kontaktabbruch.
Wie für Narzissten typisch verhielt sich auch Martinas Mutter intrigant und manipulativ, kontrollierte und bewertete alle um sich herum und sah sich ständig in Konkurrenz mit ihrem Umfeld. "Sie überschreitet ständig Grenzen, hat keinerlei Empathie und lebt in der kompletten Selbstüberschätzung. Bei ihr ging es am Ende dann soweit, dass sie versuchte, meinen Mann, meine Schwiegereltern und sogar meine Kinder gegen mich aufzuhetzen."
Das Perfide an der Situation: "Wenn ich ihr von meinem Kummer erzählte, weil sich das Verhältnis zu meinen Liebsten ständig verschlechterte, tröstete sie mich." Es dauerte Jahre, bis Martina das manipulative Spiel ihrer Mutter entlarvte. "Sie hatte den Eltern meines Mannes die irrsinnigsten Geschichten über mich erzählt - die alle nicht stimmten. Nach außen hin ist sie aber unglaublich eloquent und charmant, sodass die beiden die Richtigkeit ihrer Aussagen lange nicht angezweifelt haben.
Als sie dann noch begann, meine kleinen Kinder gegen mich aufzuhetzen, reichte es mir und ich machte das, was schon längst überfällig war." Martina brach den Kontakt zu ihrer Mutter von einem Tag auf den anderen komplett ab. "Mir war klar, dass der endgültige Cut unabdingbar war und eigentlich schon viel früher hätte passieren müssen. Ich wusste in diesem Moment, dass sie keine Hemmungen hatte und es um den Schutz meiner Kinder ging. Außerdem wollte ich endlich frei sein von ihren verletzenden Herabwürdigungen."
Ein Schritt, den auch Expertin Böhm-Schöller als sinnvoll erachtet: "Für die erwachsenen Kinder gibt es oft keine andere Alternative als den totalen Kontaktabbruch, da sie sonst der Kontrolle, der Machtausübung und der Manipulation durch den narzisstischen Elternteil nicht entgehen können. Vor allem wenn es dann auch noch um die eigenen Kinder geht, die mitunter gegen die Eltern aufgebracht werden. Manchmal beginnen die narzisstischen Eltern dann ihr Verhalten zu reflektieren und ein Neuanfang kann möglich werden."
Für Martina ist das ein Szenario, das momentan sehr weit weg ist. "Meine Mutter versucht regelmäßig wieder mit mir in Kontakt zu treten. Auch wenn's hart klingt: Ich habe kein Interesse daran und spüre nichts, was ich an ihr vermisse. Mir geht es ohne ihren toxischen Einfluss definitiv besser."