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Mutig sein – was bedeutet das überhaupt?

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12 min
Frau springt von Springturm
©Getty Images
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Manche zögern ständig, während andere einfach springen – rein ins schöne Leben, unerschrocken Neues wagen. Wovon hängt es ab, wie couragiert wir handeln? Über den Mut, sich dem Leben zu stellen, und was wir dabei gewinnen können.

Dieser Print-Artikel erschien am 22.08.2024.

"Entmutigen lasse ich mich heute nicht mehr", sagt Katja Lewina. Sie ist eine, die es wissen muss. Die 40-jährige Autorin aus Berlin spricht aus, was sich viele nicht sagen trauen – das steht auch im Klappentext ihres vierten Buchs, welches gerade erschienen ist. In "Was ist schon für immer" (DuMont) schreibt sie über ihre persönlichen Schicksalsschläge, die sie dazu brachten, das Leben mit seiner Endlichkeit neu zu überdenken. Vor zweieinhalb Jahren ist Lewinas siebenjähriger Sohn Edgar gestorben. "Einfach so, aus dem Nichts heraus. Gerade hatte er noch Bauchschmerzen gehabt, im nächsten Moment lag er bewusstlos in meinen Armen", erinnert sich die Mutter an das Schlimmste, das einem Elternteil passieren kann. Edgars Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Sieben Monate später bekommt auch Lewina Herzrhythmusstörungen. Ihr Herz setzt aus, es stolpert und schlägt nicht mehr so, wie es sollte. Lewina erhält die Diagnose, an einer vererbbaren Herzerkrankung zu leiden, und muss operiert werden. Ein implantierter Defibrillator soll helfen, wenn ihr Herz einmal nicht mehr weiterwill. Heute weiß sie, dass ihrem verstorbenen Kind Edgar die gleiche Erkrankung zum Verhängnis wurde. "Mein Sohn hat mir also möglicherweise das Leben gerettet, auch wenn diese Erkenntnis nur ein schwacher Trost für den Verlust eines Kindes sein kann", meint sie.

Wir können nicht alles schaffen, was wir wollen. Aber wir können viel mehr erreichen, als wir oft glauben.

Katja LewinaAutorin
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 © Julija Goyd

Das Leben auskosten

Es könnte auch bei ihr jeden Moment vorbei sein – und trotzdem geht Lewina mutig weiter, Schritt für Schritt. Jetzt, wo das Sterben, die eigene Endlichkeit auf einmal Teil ihres Alltags wurden, fragt sie sich: Was holen wir aus unserem Leben heraus? Sollen wir der Gesundheit zuliebe ruhig machen und damit eine ganze Menge verpassen oder ganz im Gegenteil Gas geben? "Die Gewissheit, dass es immer irgendwie weitergeht, macht mir Mut." Die dreifache Mutter weiß heute, mit etwas Abstand: Mit der Zeit werden die schlimmsten Tragödien erträglicher. Was unvorstellbar schien, wird irgendwann normal. "Und doch bleibt es ein bisschen so, als hätte man die rote Pille geschluckt: Mit der Sterblichkeit vor Augen verändert sich die Sicht auf das Leben komplett." Lewina schreibt darüber, "keine Zeit mehr für Bullshit zu haben", sortiert ihr Leben neu. "Anfangs bedeutete das vor allem, das Drama aus meinem Leben zu schaffen. Unaufgearbeitete Trennungen waren anstrengend und sorgten immer für Hin und Her. Dafür hatte ich keine Kraft mehr."

Also traf sie die wichtigsten Expartner aus ihrem Leben und machte reinen Tisch – über ihre Erkenntnisse schrieb sie das Buch "Ex. 20 Jahre und was alles so schiefgehen kann" (DuMont), welches 2022 erschienen ist und ein Bestseller wurde. "Ich lernte eine Menge über meine eigenen Muster. Inzwischen bin ich ganz gut in der Liebe, glaube ich." Lewina fühlt sich heute so frei wie noch nie. Seit sie von ihrer unheilbaren Herzerkrankung weiß und die zeitliche Begrenztheit ihr stiller Begleiter geworden ist, fällt der Berlinerin "so gut wie alles" leichter: "Ich konzentriere mich auf das Wesentliche und frage mich beständig, ob ich mit diesen Menschen, Dingen, Jobs … wirklich meine Zeit verbringen will. Mein Ja kommt von Herzen. Und ich ärgere mich sehr viel weniger", zieht Lewina Bilanz. Sie weiß: "Wir können nicht alles schaffen, was wir wollen, irgendwo ist Schluss. Aber wir können viel mehr erreichen, als wir oft glauben. Es geht darum, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, statt sich über das zu beschweren, was nicht geht", beschreibt die Journalistin ihre Vision eines gelungenen Lebens.

Eine Frage der Perspektive

Mutig sein – was bedeutet das überhaupt? Kann man das lernen? Und warum scheinen gewisse Menschen unerschrockener durchs Leben zu manövrieren als andere? Die amerikanische Psychologin Cynthia Pury forscht an der Clemson University in South Carolina seit über 20 Jahren zu diesem Thema. Sie ist überzeugt: Mut kann auf unterschiedliche Weise definiert werden – und liegt immer im Auge des Betrachters oder der Betrachterin. "Rennt jemand in ein brennendes Haus, um seine Katze zu retten, werden das Menschen, die ebenfalls ein Haustier haben, als mutig einstufen. Andere werden hingegen wenig Verständnis für die Situation aufbringen können, in der womöglich jemand sein Leben aufs Spiel setzt. Noch weniger, wenn es sich bei dem Tier um eine Vogelspinne oder eine Kakerlake handelt." Auch hier gehe es letztendlich darum, was einem selbst näher ist. Die meisten Menschen seien sich jedoch einig: Zum Mutigsein gehört, ein (für sich) lohnenswertes Risiko einzugehen. "Bezeichnen wir jemanden als couragiert, sagen wir, dass wir nachvollziehen können, warum welches Risiko eingegangen wurde", erklärt die Forscherin. Wie dieses aussieht und ob jemand bereit dazu ist, ist wiederum sehr subjektiv. So zeigten frühere Untersuchungen laut Pury, dass Personen, die Tapferkeitsauszeichnungen erhielten, eine geringere physiologische und subjektive Reaktion auf das von ihnen eingegangene Risiko empfanden. Heißt auch: Sie waren weniger ängstlich und wurden dennoch – oder gerade deshalb – als mutig betitelt.

Was außerdem auffällt: Eine gewisse Courage wird vor allem mit Leistungen in Verbindung gebracht, die einen hohen körperlichen Kraftaufwand erfordern. Pury ist deshalb überzeugt: "Wir müssen unsere Perspektive darauf, was wir als mutig einstufen und was nicht, ändern. Denn viele Dinge davon sind männlich dominiert." Feuer löschen, ein wildes Tier einfangen, Bergungsarbeiten durchführen – um nur einige Beispiele zu nennen. Dafür, sich verletzlich zu zeigen, ehrlich zu kommunizieren, Mental Load zu übernehmen, eine:n Angehörige:n zu pflegen oder ein Kind auf die Welt zu bringen, hat hingegen noch niemand eine Tapferkeitsmedaille erhalten.

Auf meinem Laptop klebt ein Sticker, auf dem steht: ,Mutig genug, um an etwas Neuem zu scheitern.‘

Cynthia PuryKlinische Psychologin

Neues wagen

Warum sich dann überhaupt aufraffen und nicht einfach gemütlich in der eigenen Komfortzone verweilen? Sind Menschen wie Katja Lewina glücklicher? Laut Mutforscherin Pury gibt es dazu unterschiedliche Ansichten. "Wir wissen, dass Personen, die beispielsweise Whistleblower sind und damit sehr viel riskieren, weniger glücklich in ihrem Leben sind." Andererseits sollten Glück und Zufriedenheit nicht verwechselt werden. "Es gibt einen Unterschied zwischen dem Gefühl, glücklich zu sein – oder Zufriedenheit zu verspüren, weil man das Richtige getan hat", gibt Pury zu bedenken. Doch keine Sorge: Es muss ja nicht gleich eine investigative Enthüllung sein – fürs Erste reicht auch der Tanzkurs, der schon ewig auf deiner To-do-Liste steht.

Denn so viel ist sicher: Etwas zu machen, was wir noch nie zuvor gewagt haben, lässt uns persönlich wachsen. Ob du es genießt, hängt auch von deinem Mindset ab: "Dein Ziel sollte nicht lauten, gleich eine großartige Tänzerin zu sein, wenn du zum ersten Mal übst", gibt Pury zu bedenken. Vielmehr können wir uns am Gefühl der ungewohnten Bewegungen erfreuen oder daran, unseren Körper und uns selbst von einer anderen Seite kennenzulernen.

Zielgerichtet mutig

"Fragen wir Leute, was ihnen geholfen hat, couragiert zu handeln, sagen diese oft, dass sie sich darauf konzentriert haben, was sie damit erreichen wollen", erzählt Pury. Meist gehe es dabei darum, in die eigene Selbstwirksamkeit zu kommen. Zu sehen, was man schaffen kann, wenn man es nur wagt. Zwar gibt es keinen Mutmuskel, der im Fitnessstudio aufgepumpt werden kann. Die gute Nachricht ist aber: Wer möchte, kann sein Mindset ändern und bestimmte Vorhaben, die Überwindung kosten, üben, um so die eigene Angst zu minimieren oder an seiner Risikowahrnehmung zu feilen. Wie? Pury, die auch Improvisations-Comedy-Kurse gibt, beschreibt, dass in ihren Gruppen etwa gezielt Fehler gemacht werden, über die alle herzhaft voreinander lachen dürfen. "So wird aus der Angst vor dem Scheitern ein lustiges Spiel, bei dem die Scham weicht." Etwas Neues auszuprobieren, könne auf diese Weise dabei helfen, das eigene Versagen nicht mehr allzu ernst zu nehmen – und so unerschrockener zu werden. "Funfact: Auf meinem Laptop klebt ein Sticker, auf dem steht: ,Mutig genug, um an etwas Neuem zu scheitern‘", lacht Pury. Auch Katja Lewina wagt sich wieder in unbekannte Gefilde vor: Sie schreibt derzeit an ihrem ersten Roman. "Eine echte Herausforderung", gesteht sie. "Aber Herausforderungen bezwingt man nur, indem man sich ihnen stellt. Ich hätte mich selbst in den Hintern gebissen, wenn ich es nicht wenigstens versucht hätte." Abschließend sagt sie: "Es gibt keine Garantien, für nichts im Leben. Das zu wissen, ist beängstigend. Aber es macht auch frei."

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