Der große Wahlkampf in den USA geht jetzt ins Finale. Wird Kamala Harris am 5. November zur nächsten Präsidentin gewählt werden und damit an den Schalthebeln der Weltpolitik mitmischen? Während man in Europa viele Hoffnungen auf die Demokratin setzt, sieht man die 60-Jährige in den USA durchaus kritischer. Eine differenzierte Betrachtung.
Endspurt! Welch ein Triumph wäre es für Kamala Harris, wenn sie in wenigen Tagen als erste Frau afroamerikanischer und indischer Herkunft die US-Präsidentschaftswahlen gewinnen würde. Eines ist sicher: Es wird eng, sehr eng. Nach wie vor liegen sie und ihr Kontrahent Donald Trump laut aktuellen Umfragen (Quelle: Real Clear Politics) nahezu gleichauf. 47,2 Prozent sind für Trump, 49,2 Prozent für Harris, wobei sich ein massiver Gender-Gap abzeichnet: Eine deutliche Mehrheit der Frauen will Kamala Harris ihre Stimme geben, wobei Männer angeben, eher für Trump zu voten. Hannelore Veit, die bis 2021 das ORF-Auslandsbüro in Washington, D.C., leitete, weiß: "Die Stimmung im Land ist extrem gespalten. Für mich steht es 50:50."
Amerika ist anders
Es ist ein knappes Duell, das man in Europa in vielen Bereichen nicht wirklich nachvollziehen kann. Hier wünscht sich die Mehrheit die charismatische Kamala Harris als strahlende, überragende Gewinnerin. Doch während sie in europäischen politischen Kreisen als fortschrittlich und integrativ gesehen wird, stellt man in ihrem Heimatland ihre politische Wirkung infrage. Harris zeige Stärke bei Frauenrechten, besonders beim heiß diskutierten Thema Abtreibung, bei Gesundheit, Bildung und Klimaschutz, sagt Hannelore Veit. Leistungen, die eigentlich honoriert werden sollten.
"Das Problem ist allerdings", meint die US-Expertin, "dass diese Themen nur die eine Hälfte der Wähler:innen, nämlich die Anhänger:innen der Demokraten, interessiert. Für Republikaner zählen vor allem die Lage der Wirtschaft und die der Zuwanderung. Und für die galoppierende Inflation der vergangenen Jahre machen Trump-Fans Joe Biden verantwortlich, auch wenn sich die Wirtschaft inzwischen wieder erholt hat und die Inflation längst wieder auf normalem Niveau ist."
Polarisierung
Wie groß doch der Hype um Kamala Harris bei ihrer Angelobung zur Vizepräsidentin vor vier Jahren war. Doch sie konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Sie habe ihre Amtszeit fast unsichtbar abgedient, wirft man ihr vor. Anstatt Brücken zu bauen, schienen ihre Äußerungen und Entscheidungen viele Gräben zu vertiefen. "Sie hätte als starke Stimme für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Fortschritt agieren können, war in ihrem Amt aber nicht präsent und ist in den Medien kaum vorgekommen", weiß Kommunikationstrainerin Veit und fügt hinzu: "Ihre Rolle beschränkte sich häufig auf symbolische Auftritte. Ihre Botschaften wurden und werden nach wie vor als uninspiriert oder opportunistisch empfunden. Man kann sie nicht einordnen."
So hatte Harris zum Beispiel den Auftrag erhalten, die "Ursachen der Migration" zu bekämpfen. "Zugegeben, eine Einwanderungsreform ist eine fast unmögliche Aufgabe", so Veit. Ihr persönlicher Super-Gau war dann, als sie in einem Interview gestehen musste, zwar für Einwanderung zuständig, aber noch nie an der Grenze zu Mexiko gewesen zu sein. Unsicherheiten wie diese kosteten ihr in den USA, wo die Wähler:innen eine entschlossene Führung erwarten, viel Glaubwürdigkeit.
Aufwind
Trotz aller Fehler der Vergangenheit hat Kamala zweifellos von Bidens unausweichlichem Abgang profitiert. Hannelore Veit erläutert die Hintergründe: "Die Erleichterung darüber hat den Demokrat:innen und somit ihr sofort einen Push verpasst. Und sie kann enorm gut Spendengelder sammeln. Ein zusätzlicher Gewinn. Jetzt muss Harris kämpfen, um die Hoffnungen ihrer Anhänger:innen nicht zu enttäuschen. Ein großer Vorteil ist, dass sie die gesamte demokratische Partei hinter sich hat." Im Gegensatz zu Trump, der auch in den eigenen Reihen mit Skepsis zu kämpfen hat. Einige Republikaner:innen warnen sogar vor der Wahl ihres Spitzenkandidaten mit Macho-Allüren und unterstützen öffentlich Harris, da sie meinen, mit ihr würde zumindest die Demokratie hochgehalten werden.
Zusätzliche Sympathisant:innen konnte die starke Rednerin bei der TV-Debatte gegen ihren Kontrahenten gewinnen. 63 Prozent der Zuseher:innen fanden Harris überlegen. Schon allein durch ihr Auftreten. Auf der einen Seite ein alter, polternder Mann, auf der anderen eine viel jüngere, dynamische Frau, die ihm rhetorisch absolut überlegen war. Trump ist verunsichert, weiß nicht, wie er mit ihr umgehen soll. Trotz dieses vorübergehenden Sieges müsse sie aber noch sichtbarer werden, nahbarer und vor allem authentischer, meint Veit, die der 60-Jährigen Letzteres nicht ganz abnimmt: "Sie kommt in ein Lokal und tut so, als wäre jede:r ihr:e beste:r Freund:in. Dann auch noch dieses für mich übertriebene, etwas aufgesetzte Lachen. Es wirkt alles nicht sehr echt. Sie spielt eine Rolle."
Wegweiser
Echt ist jedenfalls die Herkunft Kamala Harris’, die sie im Wahlkampf gerne hervorhebt. Dank ihrer alleinerziehenden Mutter, einer indischen Biologin, die sie immer supportet hat, habe sie "eine gläserne Decke nach der anderen durchbrochen", beschreibt Journalistin Marie-Astrid Langer die Politikerin in ihrer Biografie "Kamala Harris". Auch ihr Vater, ein jamaikanischer Ökonom, den sie nur an den Wochenenden traf, prägte ihr Interesse an sozialer Gerechtigkeit und politischem Engagement. In ihrer Jugend machte sie auch Mobbing-Erfahrungen. "Schon in der Schule wurde ich für meine Herkunft verspottet", zitiert die Autorin Kamala Harris.
Später schloss sich die Juristin an der Howard University, einem historisch wichtigen schwarzen College in Washington, D.C., einer Debattiergruppe an. Klassenkollegin Lita Rosari erinnert sich an ihre Auftritte: "Sie war extrem belesen, schnell im Denken und ließ sich auch von noch so redegewandten Macho-Männern nie einschüchtern." Hitzige Diskussionen stärkten ihr Selbstbewusstsein nachhaltig.
Strategie
Auf ihr Jus-Studium folgten Jahre als Assistentin bei der Staatsanwaltschaft in Oakland. Erst mit 38 Jahren wechselte sie auf die politische Bühne und wurde Bezirksstaatsanwältin in San Francisco. Selbstbewusst bewegte sie sich zwischen den Müttern der Arbeiterviertel und San Franciscos Upperclass. Kamala verstand es, sich ein großes Netzwerk aufzubauen, erläutert Langer, obwohl sie ihre politischen Aufgaben zu sehr durch die Brille der Staatsanwältin sehe: "Sie will alles ganz genau wissen und ist dafür bekannt, sehr forsch Detailfragen zu stellen. Als Chefin soll sie eher unangenehm sein."
Zu stoppen war Kamala jedenfalls nie. Im Jahr 2017 wurde sie in den US-Senat gewählt, wobei es auch hier nicht an Kritik fehlte. Man warf ihr vor, ihren Werdegang in erster Linie ihrem 30 Jahre älteren Mentor Willie Brown, einem Anwalt und Bürgerrechtskämpfer, zu verdanken. Mit ihm hatte sie während ihres Studiums über ein Jahr lang ein Verhältnis. Beide schweigen dazu. Nur ein Mal kommentierte Kamala Harris knapp dazu: "Ich habe mir nichts vorzuwerfen."
Unterstützung
Beruflich ging es für die Kalifornierin mit Riesenschritten voran. Privat hielt und hält sie sich extrem bedeckt, verweigert Interviews und präsentiert nur ihre Familie, allen voran ihren Mann, den Anwalt Doug Emhoff, und ihre Stiefkinder Ella und Cole, als ihre größten Supporter:innen. Nur ab und zu gibt Kamala Einblicke in ihre Hobbys. So weiß man, dass sie Klavier und Schach spielt. Sie besucht gerne Märkte und kocht öfter für Freund:innen. Immer wieder zeigt sie ihre Leidenschaft für außergewöhnliche Gerichte in den sozialen Medien. Und sie treibt gerne Sport und hört Musik von Beyoncé. Vielleicht mit ein Grund, weshalb ihr die Sängerin erlaubte, ihre Songs bei Wahlkampfveranstaltungen zu spielen.
Noch mehr Unterstützung aus der Hollywood-Riege kommt von Julia Roberts, George Clooney, Katy Perry, John Legend und Oprah Winfrey. Und Taylor Swift verkündete auf Instagram öffentlichkeitswirksam, dass sie Kamala Harris ihre Stimme geben werde: "Ich halte sie für eine besonnene, begabte Führungspersönlichkeit und glaube, dass wir in diesem Land so viel mehr erreichen können, wenn wir von Ruhe und nicht von Chaos geleitet werden." Auch der frühere Präsident Barack Obama stieg in Harris’ Wahlkampf ein und versucht, noch mehr männliche Wählerstimmen an Land zu ziehen. Geballte Power gegen Macho Trump.
Erwartungen
Aber was erwartet die Welt nach der Wahl? Sollte Trump gewinnen, wäre die einzige seriöse Antwort, so Veit: "Wir wissen es nicht." Wenn Harris auf Platz eins landet, "werden sicher einmal monatelang Stimmen nachgezählt, weil Trump den Wahlausgang nicht akzeptieren wird". Würde Kamala Harris irgendwann doch als Präsidentin bestätigt werden, bleibt sie wahrscheinlich Bidens bisheriger Linie treu: "Ob sie allerdings außenpolitisch stark genug ist, um sich gegen Putin oder Xi Jinping durchzusetzen, ist fraglich." Einen Rat ihrer Mutter könnte Harris auf den letzten Metern noch verinnerlichen: "Lass dir von den Leuten nicht sagen, wer du bist. Sag ihnen ganz einfach, wer du bist."