„Da gibt es noch etwas, das ich dir erzählen muss: Ich hab einen Knoten in meiner Brust entdeckt.“ – Ein Satz, mit dem niemand rechnen würde, der eine 29-Jährige auf einen Spritzer trifft. Ich war fassungslos, hatte Herzklopfen, und Hoffnung, dass es doch nur eine harmlose Zyste sein könnte. Diese Geschichte ist allerdings nicht meine: Heute hole ich meine beste Freundin Miriam vor den Vorhang. Mit ihren Erzählungen nimmt sie uns mit in den Sommer 2018 – zu jenem Tag, an dem sie die Diagnose bekommen hat. Viel zu selten sprechen wir über diese schwierige Zeit, obwohl sie für Miriam noch so präsent ist.
Heute ist sie 32. Den Krebs hat sie besiegt – von Heilung kann man allerdings noch nicht sprechen. Der Tumor wurde mit sechs Chemotherapien, zwei Operationen und 25 Bestrahlungen bekämpft. Die Krankheit selbst ist noch immer ihr ständiger Begleiter. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke. Ich habe noch immer engmaschige Untersuchungen. Bemerke ich nur einen roten Fleck auf meiner Haut, kommt das Wort „Krebs" sofort wieder in meinen Kopf“, so die Steirerin, die seit zwölf Jahren in Wien lebt.
Von den ersten Untersuchungen bis zur Biopsie vergehen Wochen. Gewissheit gibt es vorerst keine: „Meine Sorge war mir nicht bewusst. In meinen Träumen ging es aber schon oft um die Frage: Was ist, wenn ich Krebs habe?“, erinnert sich Miriam.
Dann die Diagnose: Was geht in einem Menschen vor, dessen Leben von jetzt auf gleich zum Stillstand gebracht wird – von einem Tumor, der wie ein Hybrid heranwächst und jeden Moment zu streuen beginnen könnte.
Der schlimmste Moment
„Am Tag der Befundbesprechung war ich super entspannt“, erinnert sich Miriam. „Ich hab meinen Kakao getrunken, ein Kipferl gegessen und mich mit meinem Freund ins Krankenhaus aufgemacht.“ In ihrer Stimme liegt immer eine gewisse Stärke. Miriam behauptet sich schon ihr ganzes Leben. Sorgenvoll in die Zukunft zu blicken ist so gar nicht ihre Art. Und was gestern war, liegt weit zurück. „Der Knoten wird sicher gutartig sein und die Ärzte sagen mir gleich, dass sie ihn noch weiter beobachten werden, dachte ich.“
Die Realität war aber eine andere: Zwei Frauen im weißen Kittel begleiteten sie in den Besprechungsraum: „Wie ich später erfuhr, war eine davon Psychologin.“ Es war die Frau, die einen Satz aussprach, der den Boden unter Miriams Füßen in Sekunden wegzog: „Tut mir leid Frau Pichler, ich habe leider keine guten Nachrichten für sie.“
„Es fühlt sich an als würde man in ein tiefes Loch fallen – ganz unerwartet! Und jemand schüttet es mit Erde zu. Man hört nur noch dumpf, was um einen herum passiert. Man tritt aus seinem Körper heraus.“
Kraft für Fragen hatte sie keine. Die Informationen, die auf sie einprasselten, ließ sie einfach über sich ergehen. Ihr Freund saß im Hintergrund auf einer Liege und begann zu weinen. „Mir wurde plötzlich übel. Ich ging zum Waschbecken und musste immer wieder spucken.“ Die Ärztin erklärte, wie die Chemotherapie ablaufen würde. Mitbekommen hat Miriam davon nur wenig.
Für junge Frauen bleibt aber noch eine andere Frage offen: „Besteht ein Kinderwunsch?“ Dass ihr durch das „Gift“, wie Miriam die Chemotherapie nennt, einmal die Möglichkeit genommen werden könnte, eigene Kinder zu bekommen, war ihr zu Beginn der Befundbesprechung nicht klar.
Der hybridartige Tumor, der bereits seit Monaten in ihr wütete, musste schnell behandelt werden. „Die Ärztin rief noch während des Gesprächs bei einem Fertilitätsspezialisten an, um die Möglichkeit abzuklären, Eizellen einfrieren zu lassen“, schildert Miriam diese Ausnahmesituation. „Das war der Moment, in dem ich zu weinen begann.“ Die Chemo kam für sie plötzlich nicht mehr infrage. Die Ärztin holte sie aber auf den Boden der Tatsachen: „Wir müssen sie zuerst krank machen, damit sie wieder gesund werden.“ Treffender kann eine Chemotherapie nicht beschrieben werden. Wie stark diese Medikamente wirken, wurde später sichtbar.
Mit den wichtigsten Untersuchungen konnte nicht länger gewartet werden. Am Tag der Diagnose musste Miriam noch zur Blutabnahme, saß im Warteraum mit vielen anderen Patientinnen und Patienten und zeigte schließlich eine Schockreaktion: „Ich zitterte am ganzen Körper. Ich war innerlich leer.“
Wie kehrt man nach dieser Diagnose in sein Zuhause zurück? Der Boden fühlte sich noch immer wackelig an: „Man kommt in seine vertraute Umgebung, in ein geschütztes Umfeld und hofft, dass dort alles gut sein wird, nur um festzustellen, dass sich alles fremd anfühlt. Ich war verloren“, erinnert sich Miriam an die Situation.
Nun stand das schwierigste Gespräch ihres Lebens an – sie musste ihre Eltern anrufen. „Die Diagnose ist schon schwer auszuhalten. Jetzt musste ich auch noch mit der Reaktion der anderen umgehen – das war sehr hart.“ Ihre Mutter machte sich völlig aufgelöst mit dem Auto sofort auf den Weg nach Wien. Die Stunden bis zur Ankunft verbrachte Miriam in Sorge. „Dass ich ihren Zustand sehen musste, war sehr sehr schwer. Ich bereue es, an diesem Tag jemanden von der Diagnose erzählt zu haben. Ich hätte Zeit gebraucht, um es zu verdauen.“ Ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen im Rehabilitationszentrum, in dem Miriam seit einem Jahr als Pädagogin angestellt war, versicherte sie noch am Vortag, nach der Befundbesprechung in die Arbeit zu kommen. Ihr Nichterscheinen sagte alles.
Die Chemo macht dich krank, um dich gesund zu machen.
Bevor es mit dem ersten Chemo-Zyklus losging, wurde Miriam in den künstlichen Wechsel versetzt. Die Eizellen befanden sich während der Therapie, vereinfacht gesagt, im Tiefschlaf. Der Termin beim Fertilitätsmediziner ließ sie aufatmen: „Es besteht noch immer die Möglichkeit, auf natürliche Weise schwanger zu werden oder mit Hilfe von künstlicher Befruchtung eigene Kinder zu bekommen.“
Am Tag ihrer ersten Chemotherapie hatte ihr Freund seinen 30. Geburtstag. Vier bis fünf Stunden dauerte es, bis das Medikament in ihren zierlichen Körper gepumpt wurde. Dass sich Sturheit manchmal bezahlt machen kann, zeigte sie eindrucksvoll, als sie dem Onkologen erklärte, sie wäre für sechs Chemo-Zyklen bereit – für mehr nicht. Sie brauche mindestens acht, meinte der Mediziner. Von zwölf war sogar die Rede. „Das schau ich mir an!“, entgegnete sie ihm. Wie viele es am Ende waren? Natürlich sechs.
Dass sie sich von dieser Diagnose nicht unterkriegen lässt, bewies sie bereits am zweiten Tag und begleitete mich auf die Vienna Fashion Week. Es gab in all der Zeit wenige Momente, in denen sie mir zu verstehen gab, dass sie an ihre Grenzen stößt. Wenn Miriam eines im Leben so wirklich verachtet, dann ist es Jammern. Sie hatte sich in all der Zeit nie über ihre Situation beschwert.
So kam es auch, dass eines Tages ein Video in unserer WhatsApp-Gruppe landete, in dem ihr Freund ihr den Kopf abrasierte. „Die sehen plötzlich so voluminös aus“, lachte sie in die Kamera und fasste sich erstaunt in die immer kürzer werdenden Haare. Von dort an sprach sie nur noch von ihrer Stoppelglatze, die sie nach dem ganzen Prozedere mit großen Creolen und Rollkragen-Tops stylen werde. Niemanden stand diese Frisur so gut wie ihr.
Ihre Perücke nannte sie liebevoll Pepi. Ich durfte „ihn“ nie anprobieren. „Du dehnst ihn mir aus mit deinem Riesen-Schädl“, scherzte sie immer. Wir hatten ziemlich viel Spaß mit den künstlichen Haaren. „Ist es okay, wenn wir lachen?“, fragte ich sie einmal, nachdem sie eine Vokuhila-Tanz aufführte. Wir Freundinnen hatten zwischen all dem Schmerz und der Trauer die Aufgabe, für „Normalität“ zu sorgen. „Ich will dem Krebs nicht zu viel Raum geben und die ganze Zeit davon sprechen“, ermahnte uns Miriam immer wieder. Also machten wir weiter und lachten, bis uns die Tränen kamen, als wir zu dritt um ihr Krankenbett saßen. Sie wurde nach den Weihnachtsfeiertagen mit Fieber ins Spital eingeliefert. Ein besonders kritischer Moment, körperlich war sie an ihre Grenzen gestoßen. „Ich konnte nicht mehr alleine duschen. Mein Freund setzte mich auf einen Hocker und versuchte mich zu waschen. Nach zwei Minuten musste ich raus.“
Mit dem klar gesetzten Ziel, diesen Untergrundkämpfer, der keine Miete zahlt, schnellstmöglich aus ihrem Körper zu verbannen, nahm Miriam ihre Heilung in Angriff. Komplementär- und Alternativmedizin, ein strenger Ernährungsplan und viel Recherche bestimmten ihr Leben während der Chemo. „Ich hab den Tumor als kleinen Gnom visualisiert und mir immer wieder vorgestellt, wie ich ihn verhungern lasse und ihn mit gesunden Zellen bekämpfe.“ Das positive Mindset hätte zur schnellen Heilung beigetragen, da ist sie sicher. „Wenn ich Schwäche zeige, dann gewinnt er. Ich sagte mir immer wieder: Nicht der ganze Körper ist krank, nur ein Anteil davon. Den Rest kann man als Ressource verwenden.“ Zehn Monate nach der Diagnose war der Tumor bekämpft.
Wie geht man als Krebs-Patientin eigentlich mit der Frage „Wie geht’s dir?“ um, will ich von ihr wissen. „Ich habe sie immer in Relation gesehen – heute geht es schon besser als gestern. Man lebt von Tag zu Tag. Ich fühlte mich wie eine 110-jährige Frau, der alles weh tut“, erzählt sie mir. „Was hätte ich sagen sollen? Gestern bin ich zehn Minuten gestanden ohne zu erbrechen – wow!“, blödelt sie.
Was sie zu schätzen gelernt hat? Ganz banale Dinge. Den Alltagstrott zum Beispiel, der uns alle so sehr auf die Nerven geht: „Mir wurde bewusst, dass es eigentlich gar nicht so schlecht ist, jeden Tag in die Arbeit zu gehen. Eine Aufgabe zu haben, soziale Kontakte zu pflegen und etwas leisten zu können – das ist für mich keine Selbstverständlichkeit mehr.“
Miriams Brustkrebs hatte keine genetische Ursache. Die Diagnose, die sie im September 2018 bekam, lautete „Triple negativ“ mit hundertprozentiger Teilungsrate – gestreut hatte der Tumor nicht.
„Bitte vergesst nicht, eure Brust regelmäßig abzutasten und trotz Pandemie euren Gynäkologie-Termin wahrzunehmen“ – das möchte Miriam euch noch sagen.