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Die PatientInnen berichten von starken Schmerzen und dem Gefühl, jemand treibe ihnen ein Messer in den Genital- oder Dammbereich. Die Diagnose ist schwierig und erfolgt oft sehr spät.
Die Vorstellung, von chronischen Schmerzen betroffen zu sein, ist beängstigend. Spätestens nach einem überstandenen Migräneanfall oder wenn ein schmerzstillendes Medikament seine Wirkung entfaltet, wird uns das Privileg der Schmerzfreiheit wieder vollkommen bewusst. Allerdings kann unser peripheres Nervensystem, das unter anderem für die Schmerzweiterleitung zuständig ist, aufgrund bestimmter Gegebenheiten so irritiert werden, dass es selbst zur Schmerzursache wird oder unter Schmerzen leidet.
Mediziner sprechen in solchen Fällen von neuropathischen Schmerzen bzw. Nervenschmerzen. Diese können überall dort auftreten, wo periphere Nerven verlaufen, wie der Wiener Nervenchirurg Dr. Veith Moser erläutert: „Das periphere Nervensystem zieht sich durch den gesamten Körper, verzweigt sich vielfach und ist mit einem Stromnetz vergleichbar.“ Und eben dieses Netz kann vor allem im Bereich anatomischer Engstellen Probleme, z.B. Nerveneinengungssyndrome, entwickeln, die nicht selten mit Taubheitsgefühlen, Missempfindungen, elektrischen Irritationen oder starken Schmerzen einhergehen.
Problemzone Genitalbereich
Solch ein Phänomen muss aber nicht zwangsläufig die Hände, die Füße oder die Ellbogen betreffen, sondern ist auch in der Intimregion verortet. „Im menschlichen Körper befinden sich unzählige Nerven, z.B. auch der so genannte Schamnerv oder Nervus pudendus“, erläutert der Nervenspezialist und Radiologe Dr. Gerd Bodner. „Dieser versorgt die Bereiche Rektum, Anus, Damm, Harnröhre sowie bei Männern den Penis und Teile des Hodensacks und bei Frauen Labien, Vulva, Klitoris, Venushügel und etwa ein Drittel der unteren Vagina.“
Schmerzen strahlen ins Becken aus
Hochempfindliche Regionen also, die alle in Mitleidenschaft gezogen werden können, wenn der Nervus pudendus erkrankt. „Bei der so genannten Pudendus-Neuralgie handelt es sich um neuropathische Schmerzen, die vom Schamnerv ausgehen und sich über sein gesamtes Versorgungsgebiet erstrecken und bis ins Becken ausstrahlen können.“, so Dr. Bodner.
„Charakteristisch sind die meist einseitig auftretenden Schmerzen, die blitzartig einschießen können und sich im Sitzen verschlimmern.“ Oftmals gehe der schmerzende Bereich mit extremer Berührungsempfindlichkeit einher, so der Experte. Häufig sei auch ein Brennen während des Wasserlassens spürbar.
Auswirkungen auf Sex-Leben
Die Pudendus-Neuralgie hat aufgrund ihrer Lokalisation nicht nur massive Auswirkungen auf den Alltag, sondern auch auf das Sexualleben. „Die PatientInnen berichten von partnerschaftlichen Problemen aufgrund der Schmerzsymptomatik, schämen sich und sind oftmals nicht in der Lage, ein normales Leben zu führen“, sagt Dr. Veith Moser. „Hinzu kommt, dass Gynäkologen oder Urologen nicht selten vor einem Rätsel stehen, da diese Erkrankung nur schwer zu diagnostizieren ist.“
Durchschnittlich dauert es bis zu sechs Jahren bis zur endgültigen Diagnose. Die Patienten berichten von starken Brennschmerzen und dem Gefühl, jemand treibe ihnen ein Messer in den Genital- oder Dammbereich. Die Schmerzen können in Intervallen auftreten oder dauerhaft anhalten.
Verschiedene Ursachen
Vergleichbar ist die Pudendus-Neuralgie mit dem Karpaltunnelsyndrom, das im Handgelenk auftritt und als das bekannteste Nerveneinengungssyndrom gilt. „Im Falle desselben wird der Mittelarmnerv, der Nervus medianus, im Karpalkanal eingeengt und reagiert mit Schmerzen und anderen Symptomen.“, erläutert Gerd Bodner. „Beim Nervus pudendus verhält es sich ähnlich. Er fühlt sich in seiner natürlichen Umgebung nicht mehr wohl und äußert sich entsprechend.
Ursächlich dafür können Entzündungen, Autoimmunerkrankungen, Infektionen, ein Sturz auf das Steißbein, Druck auf den Nerv, z.B. beim stundenlangen Fahrradfahren, oder Geburten sein. Auch transvaginale oder perianale Operationen wie die Hämorrhoiden-Ligatur können eine Nervenverletzung auslösen. Wie bei allen Nerveneinengungssyndromen könne man auch im Falle der Pudendus-Neuralgie nicht immer mit Gewissheit sagen, weshalb sie entstanden ist, so der Mediziner.
Schwierige Diagnose
Da die meisten Patienten mitunter Jahre auf die richtige Diagnose warten, durchlaufen sie in dieser Zeit nicht selten unzählige Diagnoseverfahren und unnötige Therapieversuche. Dr. Bodner dazu: „Zur Komplettierung der bildgebenden Diagnostik ist neben dem Ultraschall unbedingt ein hochauflösendes MRT des Beckens notwendig. Eine genaue Diagnose kann nur mit einer diagnostischen Nervenblockade erreicht werden. Sollte diese zu einer deutlichen Erleichterung von ein bis zwei Stunden führen, steht die Diagnose einer Pudendusneuralgie fest.
Am einfachsten führt man die Diagnostik mittels ultraschallgezielter Nervenblockade durch, denn der Ultraschall erlaubt es, den Nerven millimetergenau auf dem Bildschirm darzustellen.“ Sein Kollege Veith Moser ergänzt: „Diese Erkrankung geht nicht nur mit einem enormen Leidensdruck einher, sondern muss eindeutig diagnostiziert werden, um die Patienten adäquat behandeln zu können. Ich operiere nur in absoluten Ausnahmefällen, da der Eingriff aufgrund der Lage des Nervs mit hohen Risiken verbunden ist.“
Individuelle Therapie
Für eine bestehende Pudendus-Neuralgie spricht das Ansprechen auf eine Pudendus-Blockade mittels Lokalanästhetikum. Dr. Bodner erklärt: „Ein ultraschallgezielter Pudendus-Block erlaubt uns, mit Gewissheit sagen zu können, ob der Pudendusnerv die Schmerzen verursacht. Außerdem sind manche Patienten nach der Blockade dauerhaft schmerzfrei oder können von dem Betäubungsmittel beigemischten Kortison profitieren.“ Des Weiteren kann die Pudendus-Neuralgie mit Botox-Injektionen in die Beckenbodenmuskeln behandelt werden. Hilfreich sind auch Medikamente (z.B. Opioiden) oder eine Neurostimulation. Zusätzlich bedarf es der speziellen Interventionen physikalischer Beckenbodenbehandlung, Lifestylemodifikation wie Yoga oder Akupunktur. „Jeder Patient muss individuell betrachtet und entsprechend therapiert werden.“, gibt Veith Moser zu bedenken.
„Ich operiere Patienten mit dieser Erkrankung nur, wenn sie auf keine konservativen Maßnahmen ansprechen und die Einengung operativ risikolos zu erreichen ist. Eine Beseitigung derselben garantiert keine Schmerzfreiheit oder Schmerzverbesserung, aber ein Ansprechen auf den Pudendus-Block gibt Aufschluss darüber, ob ein Patient von einer Operation profitieren könnte. Im Fall der Pudendus-Neuralgie plädiere ich als erfahrener Nervenchirurg jedoch immer für das Ausschöpfen sämtlicher konservativer Behandlungsmethoden.“
Spezialisten aufsuchen
Schmerzen im Genital- oder Dammbereich müssen nicht zwangsläufig auf eine Pudendus-Neuralgie hindeuten. Allerdings sind periphere Nerven hochempfindlich und sollten – sofern sie ein Problem haben – schnellstmöglich von ihrem Leid befreit werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie einen irreparablen Schaden erleiden. Im Falle der Pudendus-Neuralgie kann es Jahre dauern, bis der Nerv sich wieder vollständig erholt. Deshalb empfiehlt sich, im Zweifelsfall einen Spezialisten aufzusuchen.