Immer mehr Mütter und Väter verzweifeln am anstrengenden Familienalltag. Pädagogin Tanja Draxler-Zenz, selbst Mutter dreier Kinder, weiß, wie man zu einem entschleunigten Miteinander findet. Der Talk.
Tee oder Kaffee?
Tanja Draxler-Zenz: Ich liebe Tee. Mit Kaffee kann man mich nicht locken.
Sie schreiben im Vorwort Ihres neuen Buches, Sie wollten es bei Ihren eigenen Kindern „anders“, entspannter angehen. Was hat Sie gestört?
Draxler-Zenz: Ich bin gelernte Kindergartenpädagogin und habe diesen Beruf acht Jahre lang ausgeübt. Ich habe in einer Krippe gearbeitet, also mit sehr kleinen Kindern. Das ist mittlerweile 20 Jahre her, aber ich habe mir damals geschworen: So möchte ich es bei meinen Kindern nicht machen.
Was genau war so schlimm?
Draxler-Zenz: Ich habe die Kleinen oft um sechs Uhr in der Früh weinend entgegengenommen, und um vier Uhr am Nachmittag sind sie abgeholt worden. Das hat mich tief berührt. Ich habe in einem gut situierten Kindergarten gearbeitet, wo es nicht darum gegangen ist, dass es alleinerziehende Mütter sind, die ihre Kinder erst nach der Arbeit holen können. Das waren zum Teil Mütter, die froh waren, sich nicht selber um die Kinder kümmern zu müssen. Das hat mir im Herzen wehgetan.
Hatten Sie das Gefühl, die Kinder waren emotional vernachlässigt?
Draxler-Zenz: Sie waren emotional überfordert – die Kinder wie auch ihre Eltern. Ich will damit niemanden kritisieren. Ich schildere nur, was ich persönlich erlebt habe. Und ich wollte das bei meinen Kindern nicht so haben.
Sie haben sich eine „entspannte“ Familie gewünscht – sind bei der Umsetzung aber selbst immer wieder an Ihre Grenzen gestoßen. Warum?
Draxler-Zenz: Ich bin selbstständig, mein Mann auch – und unsere Idee war: Wir nehmen uns mehrere Monate im Jahr frei und regeln alles anders. Wir wollten einen möglichst entspannten Alltag – kein „Taxifahren“ in der Freizeit vom Ballett zum Fußball. Die ersten Jahre ist das auch sehr gut gegangen – solange die Kinder klein und in meiner Obhut waren.
Ihre Kinder waren also nicht im Kindergarten?
Draxler-Zenz: Die beiden älteren nicht. Wir wollten mit einer Gemeinschaft von Familien eine Alternativschule gründen, was am finanziellen Aspekt gescheitert ist. Der Jüngste ist schon in den „normalen“ Kindergarten gegangen. Und meine Kinder wollten nicht in die Alternativschule, sondern in die Regelschule, weil ihre Freunde eben auch dort waren.
Das war Ihnen nicht recht?
Draxler-Zenz: Es passt mittlerweile. Aber mit diesem Schulsystem und drei Schulkindern ist man mittendrin in dem stressigen Kreislauf: Aufstehen, Schularbeiten, Ballett-Aufführungen, Klavierproben … Es ist ein Fulltime-Job, vor allem mit drei Kindern. Und dann hat man aber noch einen Beruf ...
Die Entspannung hat Ihnen also gefehlt?
Draxler-Zenz: Richtig. Ich war oft sehr müde und ausgelaugt. Dahinter steckt natürlich auch ungesunder Perfektionismus – man will ja nur das Beste für die Kinder. Und dann sieht man die lächelnden Mütter auf den Werbeplakaten, die alles mit links schaffen. Wenn man das nicht hinterfragt und schaut, wo kann ich „Nein“ sagen, wo kann ich delegieren, dann tappt man schnell in die Stressfalle. Den Stress haben natürlich auch meine Kinder gespürt, vor allem der Jüngste, der dann gesagt hat: „Mama, mir geht alles zu schnell.“ Er hat sogar mit Bauchschmerzen reagiert – da habe ich mir gesagt: „Stopp! So geht es auf keinen Fall weiter.“
Was haben Sie geändert?
Draxler-Zenz: Alles. Ich habe mein Leben massiv entschleunigt, berufliche Termine gestrichen und ein „Bindungsdorf“ aufgebaut. Ich habe meine Eltern wieder mehr integriert und meinem Mann mehr delegiert. Schlechtes Gewissen hatte ich keines, weil ich gemerkt habe, dass es mir wieder besser geht und ich mehr und mehr in meine Kraft komme – und das ist für alle bereichernd.
Womit kämpfen die meisten Familien im Alltag?
Draxler-Zenz: Das kommt stark auf das Alter der Kinder an. Wenn ich mit Familien spreche, kommt immer wieder der Punkt: Sie wissen nicht genau, was sie tun sollen, weil es keine Vorgaben mehr gibt. Früher war es einfach: Die Kinder spielen draußen und kommen alle um 18 Uhr vom Hof heim. Jetzt hat jede Familie ihre eigenen Regeln. Was nicht nur schlecht ist – es steckt auch unglaubliches Potenzial dahinter: Ich kann so leben, wie ich das gerne hätte. Aber viele Familien sind dadurch auch orientierungslos.
Inwieweit belasten schulische Probleme Familien?
Draxler-Zenz: Sehr – aber das gibt niemand gerne zu. Es ist viel angenehmer, zu erzählen, dass das Kind einen Einser hatte, als zu sagen, dass etwas nicht so gut klappt. Alleine das frühe Aufstehen morgens entspricht nicht unserer Natur: Wir sind die einzigen Lebewesen, die ihre Kinder aufwecken. Das ist eine große Herausforderung, vor allem bei pubertierenden Kindern. Die sind um sieben Uhr in der Früh in der Tiefschlafphase und müssen aufstehen und in die Schule gehen. In Dänemark oder Schweden fängt die Schule erst um neun Uhr an. Wenn du bist acht Uhr schlafen kannst, bist du ein anderer Mensch – und die schulischen Leistungen sind besser. Unsere Kinder sind eigentlich in einem Dauerjetlag.
Was kann man dagegen tun?
Draxler-Zenz: Wir können nicht das ganze Schulsystem umkrempeln, leider. Aber wir können für Ausgleich sorgen: die Kinder am Wochenende ausschlafen lassen und keine zusätzlichen Termine in die Freizeit reinpacken, die nicht notwendig sind. Die Freizeit soll Auftanken ermöglichen.
Sie behaupten: „Ich bin keine Übermutter.“ Was ist das überhaupt?
Draxler-Zenz: Mütter, die versuchen, alles perfekt zu machen, und ihre Emotionen verstecken. Wir können unseren Kindern sagen: „Ich bin gerade überfordert.“ Das halten sie viel besser aus, als wenn man so tut, als wäre alles gut. Es muss auch nicht immer perfekt aufgeräumt sein und es ist in Ordnung, wenn es statt Biokuchen einmal Pizza gibt. Kinder wollen keine perfekten Eltern.
Was wünschen sie sich denn?
Draxler-Zenz: Liebende, authentische Eltern. Und viel Geborgenheit, vor allem, wenn sie klein sind. Was sie aber nicht brauchen, ist „Overprotecting“, das ständige Behütetsein. Kinder brauchen Zeit für sich allein und keine „Helikoptermamas“, die ständig um sie kreisen.
Wie wichtig sind Grenzen?
Draxler-Zenz: Kinder suchen Grenzen. Und wenn sie diese überschreiten, suchen sie in Wahrheit Kontakt. Also wenn die Mama ständig am Handy hängt, sind sich die Kinder des Kontakts zum Erwachsenen nicht sicher und werden auffällig. Entscheidend ist auch, dass Eltern wissen, was sie wollen. Wenn ihnen etwa ein gemeinsames Essen wichtig ist, werden die Kinder das annehmen.
Wie tanken Sie selbst Kraft?
Draxler-Zenz: Im Wald. Wenn ich eine Stunde dort war, bin ich ein anderer Mensch. Yoga ist auch eine Kraftquelle, aber vor allem meine Familie. Auch wenn es manchmal anstrengend ist – das Lachen und die Lebendigkeit im Haus möchte ich nicht missen.
Die Expertin
Tanja Draxler-Zenz, 39, ist ausgebildete Pädagogin und Lebens- und Sozialberaterin mit Schwerpunkt systemische Familienberatung. Seit elf Jahren ist sie auch Geschäftsführerin des Instituts für Klang- und Entspannungspädagogik. Als Trainerin in der Erwachsenenbildung hält sie Vorträge im In- und Ausland. Soeben erschien ihr Familienratgeber „Gelassenheit steckt an“. Sie hat drei Kinder und lebt mit ihrem Mann in der Steiermark. Info: www.tanjadraxler.at
Buchtipp:
Tanja Draxler-Zenz: Gelassenheit steckt an. Entspannt durch den Familienalltag. Ennsthaler, € 16,90.