Die deutsche Bloggerin Alex-Jeanne spricht im Interview offen über ihre Borderline-Erkrankung – und räumt dabei mit gängigen Klischees auf.
Alex Jeanne ist 32 Jahre und lebt als Moderatorin und Schauspielerin in Köln. In ihrem Blog schreibt sie als Mental Health Speaker über ihr Leben mit der Borderline-Erkrankung (BPS) und warum wir offen über psychische Erkrankungen sprechen sollten.
Wie hast du festgestellt, dass du Borderline hast?
Ich habe schon als Kind widergespiegelt bekommen, dass ich irgendwie ein bisschen anders bin als andere und mit manchen Dingen anders umgehe als üblich. Zum Beispiel, dass ich alles sehr intensiv fühle. Von einer Diagnose war ich damals allerdings noch ganz weit weg. Das erste Mal bemerkt habe ich es mit 13, als ich zum ersten Mal verliebt war.
Was passierte da?
Es war ein unglaublich starkes Gefühl und ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen konnte. Meine Freunde hatten erste Beziehungen mit Händchenhalten und kamen gut damit zurecht. Ich war von der Emotionsflut komplett überfordert – ich konnte nicht schlafen und war innerlich angespannt.
Zudem hatte ich als Teenager Ess-Störungen: Dadurch, dass ich nichts mehr gegessen habe, meinte ich, meine Emotionen kontrollieren zu können. Das waren die ersten Anzeichen, wo man gemerkt hat, ich komme alleine nicht mehr zurecht. Als ich die Diagnose Magersucht bekam, sagte ich, ich wollte nicht dünn sein, sondern über das Nicht-Essen die Energien in meinem Körper besser steuern. Ich habe bemerkt, etwas an mir ist anders, nur andere verstanden es nicht.
Kannst du beschreiben, was Borderline ist?
Es ist die Unfähigkeit, Emotionen selbst konstruktiv zu regulieren. Zugrunde liegen häufig traumatische Erfahrungen und dass man als Kind die Emotionsregulation nie lernen konnte. Ursachen sind häufig wiederholte Vernachlässigung oder Missbrauch, es können aber auch ganz kleine Ereignisse sein. Auch gibt es eine erbliche Disposition. Borderline entwickelt sich über die Jahre und äußert sich in der Interaktion mit anderen, zum Beispiel durch Verhaltensweisen, die einem selbst und/oder anderen schaden. Ich ging viele destruktive Beziehungen ein und machte mich total abhängig dabei.
Wie zeigte sich die Krankheit bei dir?
Meistens bei Kleinigkeiten im Alltag. Ich habe Weinanfälle bekommen oder bin von einer Minute auf die andere wie aus dem nichts vor Wut ausgerastet. Für Eltern und Freunde war es ok aber manchmal war es anstrengend. Es konnte ja immer sein, dass meine Emotionen plötzlich kippen. Eine Gefühlsachterbahn ist typisch für Borderline. Betroffene haben schnell das Gefühl, ausgeliefert zu sein und können sich selbst nicht beruhigen.
Ab einer Gefühlsintensität von 70 Prozent setzt der Verstand aus und die Emotionen übernehmen die Kontrolle - bei Borderline geht das sehr schnell. Auch sehr starke Verlustangst ist bei Borderline ein großes Thema. Ich habe immer Wege gesucht, wie ich es kontrollieren kann, so habe ich eine Zeit lang auch gekifft und bin in verschiedene Dinge hineingeschlittert deshalb. Als ich aber merkte, es könnte eine Abhängigkeit werden, habe ich aufgehört und habe immer bemerkt, dass das nicht ich selbst bin.
Wie ging es weiter?
Richtig extrem wurde es mit 19 Jahren, als ich ausgezogen bin. Dann hat mich die Krankheit total umgehauen mit starken Panikattacken. Deshalb war ich zum ersten Mal bei einem Therapeuten. Über Jahre wurden verschiedene Fehldiagnosen gestellt wie zum Beispiel eine Angststörung oder Depressionen. Ich hatte immer das Gefühl, was sie mir sagen, stimmt einfach nicht, da meine Gefühle den ganzen Tag über so stark schwankten. Mitte 20 habe ich das Vertrauen in Therapeuten komplett verloren, weil sie das Kernproblem nicht erkannten. Es führte weiterhin dazu, dass ich noch mehr ungesunde selbstzerstörerische Verhaltensweisen lebte und weiterhin an ungesunde Menschen geriet.
Wie gab dein Ex-Freund dann schließlich den Hinweis?
Als die Anspannungen so stark wurden, begann ich auch, mich zu ritzen, um diese Gefühle zu mildern. Ich ritzte mich an Stellen, an denen man es kaum sieht. Mein damaliger Freund entdeckte dann die Narben an meinen Beinen. Seine Schwester hatte eine BPS-Diagnose und er riet mir nochmals, eine Diagnostik zu machen. Er sagte, Borderline sei "eine sehr schlimme Krankheit". Ich tat es, weil ich ihn nicht verlieren wollte. Die Beziehung hat es nicht überlebt.
Hast du erneut eine Therapie begonnen?
Ja - die Dialektische Verhaltenstherapie (DPT) ist eine Therapie speziell für Borderliner. Sie hat mir sehr geholfen, in eine Positiv-Spirale zu kommen und sie hat es auch sehr viel einfacher gemacht, mit mir selbst umzugehen. Ich sage Menschen nun, was mit mir los ist, damit sie die Möglichkeit haben, mich zu verstehen und zu verstehen, wie ich Dinge wahrnehme.
Was hat sich verändert?
Es dauerte etwas, bis ich die Diagnose annehmen konnte. Heute weiß ich, Borderline wird immer ein Teil von mir sein, und heute bin ich sehr dankbar, denn ich fühle sehr intensiv – auch die schönen Dinge. Der Grundpfeiler der Therapie ist, Gefühle aushalten zu lernen. Dazu gehören auch Unsicherheiten. Ich habe gelernt, zu differenzieren, wo starke Gefühle angemessen sind und wo nicht. Ich konnte nach und nach lernen, negative Verhaltensweisen durch konstruktive zu ersetzen. Zum Beispiel konnte ich meine unverhältnismäßig starke Angst vor dem Verlassenwerden besser einordnen und beruhigen.
Somit konnte ich immer mehr verstehen, was mir passiert, wenn mein heutiger Freund sich zum Beispiel einmal länger nicht meldet. Sport hilft mir heute extrem, meine innere Anspannung loszuwerden. Wenn ich Wut spüre, gehe ich laufen, anstatt sie gegen mich zu richten. Ich habe durch die Therapie verstanden, dass sich Emotionen eigentlich langsam aufbauen und nicht plötzlich aufkommen, auch, wenn ich das so erlebt habe. Mit Achtsamkeit kann ich nun rechtzeitig Dinge erkennen und Emotionen im Kern wahrnehmen. Im Grunde geht es sehr stark darum, den Selbstwert und die Selbstliebe aufzubauen. Denn wenn man schon als Kind anders ist und intensiv fühlt, geht der Selbstwert dadurch verloren, weil man denkt, dass man nicht richtig ist und sich immer schuldig fühlt dafür.
Seit 2018 ist es mir sehr wichtig geworden, über die Thematik aufzuklären. Das Klischee des düsteren Borderliners, der in dunklen Klamotten in einem Raum sitzt und sich ritzt, trifft nur auf etwa ein Prozent der PatientInnen zu. Borderline haben Menschen quer durch alle Schichten und Altersgruppen – vom Arbeiter bis zur hochstudierten Karrierefrau. Meistens sind aber Frauen. Ich glaube auch, dass jeder Borderliner auch hochsensibel ist, aber nicht jeder Hochsensible ist auch Borderliner.
Wie geht dein heutiger Freund mit der Erkrankung um?
Als ich zu Beginn merkte, wir verstehen uns gut, habe ich ihm von meiner Erkrankung erzählt und gab ihm die Chance, sich zu entscheiden. Somit stellte ich mich bewusst wieder meinen Ängsten um die Chance zu haben, positive Erfahrungen zu machen. Für ihn war es überhaupt kein Thema. Er sagte mir, er wünschte, er wäre selbst sensibler und könne viel von mir lernen. Er sah es als Stärke. Das half mir, das Negative umzuwandeln. So konnte ich meine größte Schwäche auch zu meiner größten Stärke machen. Meine heutige Beziehung hat sehr viel geheilt.