In Korea steht ein hohes Nunchi für eine ausgeprägte emotionale Intelligenz.
Haben Sie sich je gefragt, warum manche Menschen intuitiv immer die richtigen Worte finden, sich in jeder noch so neuen oder unbekannten Situation glänzend schlagen, während andere von einem Fettnäpfchen ins nächste tappen und sich ständig blamieren? Die Antwort ist: Ihnen fehlt es am richtigen Maß an „Nunchi“. Nunchi bedeutet wörtlich „das Augenmaß“ und ist das wichtigste koreanische Leitprinzip für das Überleben sowie für Glück und Erfolg im Leben. Im Interview verrät die Buchautorin Euny Hong (www.eunyhong.com), worauf es beim Prinzip "Nunchi" ankommt.
Lust aufs LEBEN: Nunchi – Das ist im deutschen Sprachraum bisher ein unbekanntes Wort. Was sagt uns dieses Geheimrezept aus Korea?
Euny Hong: "Nunchi" bedeutet wörtlich "Augenmaß". Es umschreibt eine visuelle Momentaufnahme einer Situation, um den Kern des Geschehens zu erfassen. Es ist die Kunst, einen Raum zu betreten und zu verstehen, was Menschen denken und fühlen - nicht nur einzeln, sondern als Ganzes.
Lust aufs LEBEN: Ist diese Fähigkeit jedem angeboren oder kann man Nunchi erlernen?
Euny Hong: Sicherlich haben einige Menschen mehr angeborene Nunchi als andere. Wenn Sie an Mitglieder Ihrer eigenen Familie denken - Ihre Eltern, Großeltern, Geschwister - können Sie sicher sofort an Menschen denken, die Nunchi sehr gut beherrschen, und an andere, die es gar nicht können. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es nicht gelehrt werden kann. Jeder kann Nunchi lernen, weil es in erster Linie auf der Bereitschaft zur Beobachtung beruht. Das einzig schwierige daran ist, dass Sie sich mit einem ruhigen Geist wohlfühlen müssen. Wenn Sie der Typ sind, der sich verpflichtet fühlt, jedes Mal, wenn Sie einen Raum betreten, einen Witz zu machen, werden Sie alle sozialen Hinweise verpassen. Eine der Regeln von Nunchi lautet: "Wenn Sie einen Raum betreten, denken Sie daran, dass jeder, der vor Ihnen dort war, mehr weiß als Sie". Sehen und hören Sie zu, bevor Sie sprechen. Es ist physisch unmöglich, gleichzeitig zu sprechen und zu beobachten.
Lust aufs LEBEN: Was unterscheidet Nunchi von anderen Begriffen wie zum Beispiel Empathie oder emotionaler Intelligenz?
Euny Hong: Viele Leute fragen mich, warum sie "Nunchi" brauchen, wenn der Westen ähnliche Konzepte hat - emotionale Intelligenz, Empathie usw. Ich würde sagen, dass Nunchi sich in zweierlei Hinsicht von seinen westlichen Synonymen unterscheidet: Erstens betont Nunchi den Raum als Ganzes, nicht nur eine einzelne Person. Koreaner glauben, dass ein Raum wie ein Theaterstück ist - er hat seine eigene Atmosphäre, seine eigene „Temperatur“, seine eigene Stimme. Koreaner haben ein Wort, um die allgemeine Emotion eines Raumes zu beschreiben: "Boonwigi". Dieses Wort bezieht sich auf den emotionalen Zustand eines Raumes, als wäre es eine Person. Diese Vorstellung, dass das Ganze größer ist als die Summe seiner Teile, ist ein sehr koreanisches Konzept. Das zweite, was für Nunchi einzigartig ist und in westlichen Konzepten wie „emotionale Intelligenz“ fehlt, ist, dass Nunchi Geschwindigkeit betont. Wenn eine Person Nunchi beherrscht, sagen Koreaner nicht, dass sie „gute“ Nunchi haben. Sie sagen, sie haben "schnelle" Nunchi. Geschwindigkeit ist gleich Anpassungsfähigkeit, und Anpassungsfähigkeit ist überlebenswichtig.
Lust aufs LEBEN: Wie kamen Sie auf die Idee, ein Buch über Nunchi zu schreiben?
Euny Hong: Kurzum: wegen der Smartphones. Es ist für jeden offensichtlich, dass die Welt maximale Selbstsucht erreicht hat. Aus diesem Grund gibt es einen aktuellen Trend von Büchern über Glück aus anderen Kulturen wie Hygge, Ikigai, Fika usw. Die Menschen spüren, dass etwas in der Gesellschaft grundlegend kaputt ist und sie wollen Antworten, von denen sie noch nichts gehört haben.
Lust aufs LEBEN: Suchen Menschen darum mehr denn je, was Glück wirklich ist?
Euny Hong: Die Welt wird immer unbewohnbarer, die Wohlstandsunterschiede nehmen zu und die Armut ist genauso weit verbreitet wie zuvor. Die Technologie sollte all diese Dinge reparieren, hat es aber eindeutig nicht. Diese aktuelle Generation junger Menschen ist dank Smartphones die am stärksten vernetzte Generation in der Geschichte der Menschheit. Eine Umfrage nach der anderen zeigt jedoch, dass dies auch die einsamste Generation in der Geschichte ist. Bereits in den 1990-er Jahren versprachen frühe Befürworter des Internets, dass das Internet ein „globales Dorf“ schaffen würde. In der Tat ist das Gegenteil passiert.
Lust aufs LEBEN: Warum?
Euny Hong: Weil Smartphones es für Menschen sozial akzeptabel gemacht haben, alles andere um sie herum zu ignorieren. Die Leute sehen kaum, dass es vollkommen in Ordnung ist, eine unangenehme Stille zu haben. Wenn Sie nicht mit der Person vor Ihnen verbunden sind, ist Ihnen auch Ihre Umgebung gleichgültig. Schauen Sie sich die Ergebnisse an!
Lust aufs LEBEN: Können Sie den LeserInnen ein Beispiel für Nunchi nennen?
Euny Hong: Der durchschnittliche Arbeitsplatz bietet viele Beispiele für gute und schlechte Nunchi. Menschen mit guten Nunchi sind weit über ihre eigentliche Kompetenz hinaus erfolgreich. Ein Beispiel für mein eigenes, schnelles Nunchi war in einem Büro, in dem ich arbeitete, wo angekündigt wurde, dass es aufgrund eines Unternehmenskaufs bald zu Entlassungen kommen würde. Alle spekulierten, wer zuerst entlassen werden würde. Ich erkannte sofort, dass die ersten Personen, die entlassen wurden, meine drei Kollegen waren, die sich freiwillig als Bürofeuerwehrmann gemeldet hatten - die Personen, deren Aufgabe es wäre, im Brandfall Menschen aus einem Gebäude herauszuholen.
Lust aufs LEBEN: Was brachte Sie dazu, das zu denken? Haben sie sich nicht freiwillig gemeldet, um hilfreich zu sein? Warum sollten sie entlassen werden?
Euny Hong: Mein Nunchi sagte mir, dass der Grund, warum diese Leute sich freiwillig für diese „wohlwollende“ Rolle gemeldet haben, darin bestand, dass sie die Bürowerte falsch gelesen hatten. Sie dachten, dass dies die Art von Büro war, in dem die Freundlichkeit belohnt wurde. Wenn sie ihre Nunchi benutzt hätten, hätten sie erkannt, dass sich alles um Tabellen dreht. Sie waren in ihrer Arbeit unterdurchschnittlich, weshalb sie sich wahrscheinlich unsicher fühlten, was ihnen möglicherweise das Gefühl gab, dass sie dies durch freiwilliges Engagement für zusätzliche Aufgaben kompensieren könnten. Natürlich gibt es einige Büros, in denen die Mitgliedschaft im „Office Party Committee“ oder ähnlichem positiv bewertet wird, aber dies war keines dieser Büros.
Wenn Sie ein schnelles Nunchi haben, können Sie im Voraus wissen, dass Entlassungen kommen, und Sie können vor den Entlassungen nach einem Job suchen. In diesem Fall wären alle gleichzeitig auf dem Arbeitsmarkt.
Buchtipp:
"Nunchi – Das koreanische Geheimrezept", Euny Hong, Knaur Balance, € 19,--