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"Eltern müssen ihren Kindern Grenzen setzen"

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Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, 57, ist Praktische Ärztin, Gynäkologin, Ärztin für Psychosomatik und Psychotherapeutin.
Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, 57, ist Praktische Ärztin, Gynäkologin, Ärztin für Psychosomatik und Psychotherapeutin.© Lukas Ilgner©Lukas Ilgner
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Erziehungs-Debatte. Martina Leibovici-Mühlberger ist Erziehungsberaterin und Mutter von vier Kindern. In ihrem neuen Ratgeber behauptet sie, wir ziehenTyrannen groß. Wer ist daran schuld? Was brauchen Kinder wirklich? Der Talk.

Tee oder Kaffee?
Martina Leibovici-Mühlberger: Ich trinke in der Früh immer schwarzen Tee mit Zitrone oder mit Milch. Und danach gleich einen Kaffee. Tagsüber genieße ich dann vier bis fünf Kaffees in den verschiedensten Variationen. Das kommt noch aus meiner Spitalszeit.

Sie sind Mutter von vier Kindern. Hat der Muttertag am 8. Mai eine besondere Bedeutung für Sie?
Leibovici-Mühlberger: Nein, gar nicht. Eher für die Kinder! (lacht) Sie bringen mir Frühstück ans Bett.

Ihr viertes Kind haben Sie mit 47 bekommen. Ein Wunschkind?
Leibovici-Mühlberger: Gerechnet habe ich nicht damit, aber ich habe mich sehr gefreut. Ich habe knapp vor meinem 40. Geburtstag mein drittes Kind bekommen und mir mit 43 Jahren noch ein Kind gewünscht. Ich war auch gleich schwanger, doch ich bin im Millennium Tower am Vormittag überfallen worden und habe das Kind verloren. Dann bin ich nicht mehr schwanger geworden, bis ich innerlich damit abgeschlossen hatte. Und dann kam eben doch noch eines ...

Ist es besser, früher oder später Mutter zu werden?
Leibovici-Mühlberger: Beim ersten Kind war ich 32,5 Jahre alt. Ich war also nie eine wirklich junge Mutter. Mit 20 Jahren hätte ich mir ein Kind nicht zugetraut, das hätte mich aus der Bahn geworfen: Ich hätte meinen Werdegang, mein Studium vielleicht nicht gemacht. Für mich hat es so gepasst. Natürlich sind 15 Jahre zwischen meinem ersten und meinem letzten Kind. Und mit 47 ist man nicht mehr ganz so frisch – man wird dann manchmal eher schon für die Oma gehalten.

Gibt es den idealen Zeitpunkt für die Mutterschaft überhaupt?
Leibovici-Mühlberger: Nur für jeden persönlich. Ich sage immer: Für Mutterschaft und Vaterschaft sollte man selber erwachsen sein. Man sollte fähig sein, eine Führungsverantwortung in einem liebevollen Sinn zu übernehmen – kontinuierlich, konstant und permanent. Das ist ein großer Job und dafür sollte man bereit sein. Ich wäre es mit 20 nicht gewesen.

Sie haben Ihre Kinder auch alle sehr lange gestillt ...
Leibovici-Mühlberger: Ja, zweieinhalb Jahre. Wenn man nicht bis zum ersten Geburtstag des Kindes abstillt, dann muss man bereit sein, dem Kind zu überlassen, wann es damit aufhören will.

Wie ging sich das neben Ihrer Arbeit aus?
Leibovici-Mühlberger: Ich war extrem privilegiert. Wir haben bei den ersten Kindern praktisch in einem Drei-Generationen-Haushalt gelebt. Und mein Mann konnte sich die Zeit auch gut einteilen, da er selbstständiger Unternehmer war. Als Israeli war das aktive Teilnehmen am Familienleben eine Selbstverständlichkeit für ihn.

In Ihrem aktuellen Buch* behaupten Sie, wir ziehen Tyrannen groß. Was läuft falsch in der Erziehung?
Leibovici-Mühlberger: Die Beziehung läuft falsch. Wir brauchen eine Bindung und Beziehung und eine liebevolle Führung für unsere Kinder. Wir müssen ihnen einen Raum geben, den wir, die Eltern, markieren. Und innerhalb dieses Raumes können sich die Kinder dann frei entwickeln. Es braucht diesen Rahmen, der Sicherheit und Zuverlässigkeit gibt.

Und diese Sicherheit fehlt unseren Kindern?
Leibovici-Mühlberger: Ja, sehr oft. Denn wir haben in den letzten 20 Jahren ein Gesellschaftsideal entwickelt, das die große Freiheit und Individualität aufs Banner geschrieben hat. Das hat die Eltern ganz stark unter Druck gesetzt. Wenn wir an diese Normen glauben, dann wollen wir die ja auch für unsere Kinder. Wir lieben sie ja und wollen das Beste für sie. In der Praxis sieht das dann so aus: Mit sechs Wochen Babyschwimmen, sonst verbaut man dem Kind eine mögliche Schwimmerkarriere. Oder steckt doch ein Mozart in meinem Kind? Also auf in die musikalische Frühförderung. Wie, Sie haben keinen Vorschul-Englischkurs gemacht? Das Kind hat später Ihretwegen womöglich Probleme beim Sprachenlernen! Eltern werden dazu angehalten, in ihr Kind zu investieren. Aber nicht in Emotionalität und Bindung und Beziehung, sondern in Förderung. Es ist ein regelrechter Förderzirkus! Eine ganze Industrie profitiert davon. Und wenn etwas nicht gleich klappt, dann bitte schnell was Neues: Das Kind mag die Gitarre nicht mehr? Dann probieren wir es eben mit Violine oder Schlagzeug.

Es mangelt also an Disziplin?
Leibovici-Mühlberger: Ja, es mangelt an guter Disziplin. Dass man Kinder ermutigt, an etwas dranzubleiben zum Beispiel. Wozu üben? Das ist ja langweilig. Das Durchhaltevermögen der Kinder ist nicht ausgebildet. Wir leben in einer Spaßgesellschaft. Macht etwas keinen Spaß, dann muss schnell was Neues her. Aber Menschen, die Großes erreichen – egal ob im kreativen Bereich, als Musiker, als Schauspieler oder Wissenschaftler –, sind Menschen, die fähig sind, durchzuhalten, dranzubleiben, an sich selber zu glauben, viel Mühe und Arbeit zu investieren. Und diese Kompetenzen bringen wir unseren Kindern auf diese Art nicht mehr bei. Es ist paradox: Es werden notfalls Kredite für Förderkurse aufgenommen, aber das Dranbleiben wird nicht gefördert. Da sagt man lieber: „Mach, wie du willst.“ Grenzen zu setzen wäre hier notwendig, aber Eltern haben Angst, Einschränkungen, welcher Art auch immer, könnten den Selbstwert des Kindes beschädigen.

Was geschieht, wenn wir Kindern zu wenig Grenzen setzen?
Leibovici-Mühlberger: Man lässt sie alleine, ohne Weisung. Ich erlebe Eltern, die darüber klagen, ihr fünfjähriges Kind sei vor Mitternacht nicht ins Bett zu bekommen. „Was passiert denn, wenn Sie Ihr Kind um acht ins Bett stecken?“, frage ich. „Das will es nicht, da tue ich ihm ja Gewalt an!“, sagen sie dann. Und dann führe ich die Eltern auf meinen Kaiserbalkon im dritten Stock. Sie bewundern die Aussicht. Und dann frage ich, wie sie sich fühlen würden, wenn ich jetzt das Geländer wegnähme ... So geht es Kindern ohne Grenzen.

Sie haben Angst ...
Leibovici-Mühlberger: Ja, denn Grenzen haben auch eine Schutzfunktion. Selbstbewusstsein entsteht innerhalb eines begrenzten Raumes. Diese Haltung ist leider unter die Räder gekommen. Oft werden Kinder das erste Mal im Schulsystem mit Grenzen konfrontiert. Dann sagt die Lehrerin: „Er ist zwar gescheit, kann aber nicht sitzen bleiben.“ An höheren Schulen und in der Lehre oder im Arbeitsleben offenbaren sich dann diese Strukturmängel immer mehr. Die Eltern mutieren irgendwann von den Steigbügelhaltern zu Kritikern: „Kind, jetzt reicht es! Jetzt bist du 23 Jahre und weißt immer noch nicht, was du studieren oder arbeiten möchtest ...“


Was können Eltern besser machen?
Leibovici-Mühlberger: Liebevoll Grenzen setzen. Ich will die Schuld aber nicht den Eltern zuschieben. Sie handeln im besten Wissen und Gewissen. Das Problem ist die Verkommerzialisierung unserer Kinder. Die Gesellschaft treibt hier ein sehr böses Spiel: Unsere Kinder werden sehr früh zu Konsumenten gemacht. 12-Jährige gehen nicht mehr in die Tagesbetreuung, sondern sind mit Freunden im Shopping-Center. Dort konsumieren sie – und davon profitieren viele Industrien.

Wie sieht Ihr Familienalltag aus?
Leibovici-Mühlberger: Ich komme gegen 20.00 Uhr nach Hause, dann koche ich. Das gemeinsame Abendessen ist mir wichtig. Meine Älteste ist gerade in London; die anderen sind alle am Tisch. Bis etwa halb elf plaudere ich mit den Größeren, danach setze ich mich wieder zum Computer und arbeite bis ein Uhr in der Nacht.

Wo bleibt die Erholung für Sie selbst?
Leibovici-Mühlberger: Meine Arbeit ist mein größtes Hobby. Ich lese eine halbe Stunde vor dem Einschlafen. Ins Fitness-Studio gehe ich nicht, dafür steige ich Treppen. Oft sind wir auch in der Toskana, wo wir ein Rustico haben. Und ich habe vor zwei Jahren begonnen, Motorrad zu fahren, obwohl ich aufgrund meiner Erfahrungen aus der Unfallchirurgie immer der härteste Gegner war. Ich habe meinen Motorradführerschein heimlich gemacht. Und jetzt liebe ich das Fahren. Du fährst eine Strecke 50 Mal und es ist 50 Mal anders. Du musst immer präsent, aufmerksam und fokussiert sein. Es macht dir bewusst: Das Leben ist lebensgefährlich. Aber schön!

Buchtipp: "Wenn die Tyrannen-Kinder erwachsen werden", edition a, um 21,90€.

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