Es ist einer der spektakulärsten Entführungsfälle des 21. Jahrhunderts: Natascha Kampusch konnte 2006 nach über acht Jahren aus dem Verlies ihres Kidnappers fliehen. Es folgten Gerüchte, Identitätskrisen und viel Wachstum. Heute spricht die Wienerin offen über ihre Erlebnisse und verarbeitet diese in Veröffentlichungen wie "3096 Tage" - eine später auch verfilmte Autobiographie ihrer Gefangenschaft und Selbstbefreiung.
von
- Steckbrief: Natascha Kampusch
- 5 spannende Fakten über Natascha Kampusch
- Natascha Kampusch war ein Mädchen mit vielen Hobbys und Visionen
- 1998 mit zehn Jahren von Wolfgang Přiklopil entführt
- Acht Jahre Gefangenschaft: Über Tagesabläufe, Machtspiele und Fluchtversuche
- Kampusch und Přiklopil: Eine ungewöhnliche Täter-Opfer-Beziehung
- Am 23. August 2006 gelingt Natascha Kampusch endlich die Selbstbefreiung
- Erste Begegnungen mit Psycholog:innen und das Wiedersehen ihrer Eltern
- Was passierte mit Wolfgang Přiklopil?
- Wie Natascha Kampusch von der Presse ins falsche Licht gerückt wurde
- Natascha Kampusch als Autorin: Autobiographie "3096 Tage" mit Verfilmung
- Wie lebt Natascha Kampusch heute?
Natascha Kampusch ist eine der wohl bekanntesten Österreicherinnen überhaupt. Der Grund dafür ist schockierend: Vor über zwanzig Jahren wurde die gebürtige Wienerin im März 1998 auf ihrem Schulweg von dem Schaltmechaniker Wolfgang Přiklopil entführt. Erst acht Jahre später - am 23. August 2006 - gelang ihr die Flucht. Ein Fall, der die bisher längste Freiheitsberaubung eines Kindes ohne Todesfolge in Europa markiert. Dieser mag zwar Anlass für Nataschas Bekanntheit sein, bildet jedoch noch lange nicht ihre ganze Geschichte.
Wir haben die bemerkenswerte Powerfrau in Wien getroffen und durften mit ihr über Gefangenschaft, Entkommen und das Leben (danach) sprechen. Als Opfer sieht sich Natascha nämlich schon lange nicht mehr. Sie ist Autorin, Designerin, Aktivistin, Kämpferin - mit Träumen, wie sie du und ich haben. Natascha Kampusch im Portrait.
Steckbrief: Natascha Kampusch
Steckbrief
Natascha Maria Kampusch
5 spannende Fakten über Natascha Kampusch
Bevor Natascha Kampusch nach ihrer Selbstbefreiung auf Beamt:innen traf, stieß sie bei Passant:innen auf Ablehnung: Die Geflüchtete wurde nicht erkannt und ihr Hilfeschrei als Scherz wahrgenommen.
Natascha Kampusch verbringt privat viel Zeit bei ihrem Pferd im Reitstall in der Nähe von Wien.
Das für Natascha Kampusch erbaute und eingerichtete Verlies verfügte unter anderem über WC, Lüftungssystem, Waschbecken, Bett sowie Kühlschrank.
Obwohl medial oft vom Stockholm Syndrom gesprochen wird, bestreitet Natascha Kampusch jegliche Spekulationen über ihre Gefangenschaft und die Beziehung zu Wolfgang Přiklopil.
Natascha Kampuschs Geschichte ist ein Beispiel für den Lebenswillen und die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes. Trotz der schlimmen Ereignisse führt die Wienerin heute einen vergleichsweise normalen Alltag.
Natascha Kampusch war ein Mädchen mit vielen Hobbys und Visionen
Natascha Kampusch wurde am 17. Februar 1988 als Tochter des Bäckermeisters Ludwig Koch und der gelernten Schneiderin Brigitta Sirny (ursprünglich Kampusch) geboren. Mütterlicherseits hat die Wienerin zwei Halbschwestern - mit einem Altersunterschied von 20 Jahren. Zur Zeit ihrer Entführung besuchte Natascha die Volksschule.
Freizeitbeschäftigungen gab es - so wie bei eigentlich jedem Kind - viele: Sport machen, Fernsehen, Bücher lesen. Der gewöhnliche Alltag einer Viertklässlerin! Besonderes Interesse zeigte sie gegenüber Naturwissenschaften und Medizin.
Aufgrund der Trennung ihrer Eltern lebte Natascha bei Mama Brigitta, die sie in der Vergangenheit bereits häufig vor Entführungsszenarien und bösen Menschen gewarnt hatte. Trotz des jungen Alters nahm sich Natascha die Worte ihrer Mutter zu Herzen: "Ich dachte mir am Anfang schon, dass mir das nicht passieren würde. Aber ich hab' es trotzdem ernst genommen." Eine Reaktion, die schon damals von Reife zeugte.
1998 mit zehn Jahren von Wolfgang Přiklopil entführt
Am Morgen des 02. März 1998 machte sich die damals 10-jährige Natascha auf den Weg zur Schule - weinend. Kurz vor Aufbruch kam es zu einem unausgesprochenen Streit mit Brigitta Kampusch, der in einer Ohrfeige und zwei sehr wütenden Parteien resultierte. Dass es sich dabei um die vorerst letzte Konversation zwischen Mutter und Tochter handeln sollte, konnte damals keine:r ahnen.
Natascha erzählt im WOMAN-Interview, dass die eigentlich bedeutungslose Auseinandersetzung sie noch Jahre später beschäftigte. Einen tröstenden Gedanken gab es allerdings: Sie war sich sicher, irgendwann eine persönliche Versöhnung mit ihrer Mutter haben zu können - irgendwo tief drin spürte sie immer einen kleinen Funken Hoffnung.
Strasshof an der Nordbahn liegt im Bezirk Gänserndorf in der Nähe von Wien und hat um die 12.000 Einwohner:innen - hier wohnt(e) Wolfgang Přiklopil in der Heine-Straße 60. Obwohl er in der Umgebung als ruhiger, dennoch stets nett grüßender Nachbar galt, entschied er sich dazu, das Unfassbare zu tun: Er zerrte ein Kind in seinen weißen Mercedes-Lieferwagen und fuhr 17 Kilometer bis zu seinem Horrorhaus - so nannten die österreichischen Boulevardmedien das gelbe Einfamilienhaus. Dieses Kind war Natascha.
Hier hatte er bereits Vorarbeit geleistet: Unter der Garage des Hauses befand sich hinter schwerer Stahltür ein fünf Quadratmeter großes, schalldichtes, fensterloses Verlies - Nataschas zu Hause für die kommenden achteinhalb Jahre. "Man hätte es mit etwas mehr Grips finden können. Aber wenn man dort nicht zu Hause ist und es auch nicht sucht, findet man es nicht." Ob es eine gezielte Entführung oder bloß Zufall war, weiß die Wienerin bis heute nicht. "Ich hatte eine Vorahnung", beschreibt sie den Moment, in dem sie Přiklopil erstmals sah.
Noch am selben Abend alarmierten Nataschas Eltern die Polizei. Einen Tag später berichtete eine Zeugin, Natascha, Přiklopil und dessen Auto zusammen gesehen zu haben. Ab diesem Zeitpunkt hätte alles schnell gehen können: Am 06. März 1998 suchten Ermittler den Entführer aufgrund der passenden Beschreibung zum ersten Mal in Strasshof auf, einen Monat später machte auch ein Hundeführer auf Přiklopil aufmerksam. Keinem der Hinweise wurde letztlich ausreichend nachgegangen, denn Natascha blieb verschwunden.
Acht Jahre Gefangenschaft: Über Tagesabläufe, Machtspiele und Fluchtversuche
Innerhalb der ersten Jahre kannte Natascha ihren Entführer nicht namentlich: "Er wollte immer Gebieter genannt werden. Das war das Wichtigste für ihn." Nachdem sie sich weigerte, ihn so anzusprechen, durfte Natascha die Abkürzung "Wolf" benutzen. Sicher konnte sie sich bei seinem Namen natürlich nie sein - er hätte theoretisch alles behaupten können, ohne, dass sie je die Wahrheit wüsste. Přiklopil hingegen hatte bis auf "Sklavin" keinen speziellen Namen für Natascha, weswegen sie sich selbst einen ausdachte: Bibiana, kurz Bibi. Das hatte Energie mit dem ausdrucksstarken "B" davor.
Anfangs durfte Natascha keinen österreichischen Radiosender einschalten, später hörte sie in der Sendung "Spurlos", dass man sie bedauerlicherweise wahrscheinlich nie wieder finden würde. Menschen würden nun einmal immer verschwinden. "Es war befremdlich, meinen eigenen Namen zu hören. Hat sich ganz entfernt angefühlt", so Natascha. Um sich abzulenken, flüchtete sie in Fantasien - beispielhaft zeichnete sie eine Klinke an das Innere ihrer Tür und stellte sich vor, diese bewegen und somit entkommen zu können.
Natascha glaubt, dass Přiklopil täglich zu ihr ins Verlies herunter kam - bis auf die Wochenenden, an denen seine Mutter Waltraud Přiklopil zu Besuch war. Währenddessen wurde die Gefangene meist mit ausreichend Lebensmitteln versorgt, die in ihrem eigenen kleinen Kühlschrank verstaut werden konnten. Dasselbe galt für Hygieneartikel während ihrer Menstruation. Allgemein durfte Natascha Einrichtungswünsche äußern - beispielsweise einen Kalender oder eine Uhr. Ob diese genehmigt wurden, war etwas anderes. "Ich hab' einfach immer gesagt, was ich brauche. Aber natürlich keinen Schlaghammer", scherzt sie.
Während der Zeit im Verlies nahm Natascha viele ihrer ursprünglichen Hobbys wieder auf: Sie hörte den Kultusender Ö1, malte, zeichnete, las und schrieb - viel mehr war schlichtweg nicht möglich. Statt ihres Körpers wurde der Geist trainiert; der Verlust von Liebe, Schule und Freund:innen mit Bildung kompensiert. Nach einem Jahr durfte Natascha den Kerker verlassen, da sie im Haushalt helfen sollte. Es folgten stetig mehr Freiheiten: Erst betrat sie die obere Etage, dann den Garten und schließlich unternahmen die beiden sogar Ausflüge zusammen.
Erkannt wurde Natascha dabei nie - manche Nachbar:innen hielten sie für Přiklopils Partnerin, anderen erzählte er, sie wäre eine jugoslawische Haushaltshilfe. Wenige Monate vor ihrer Flucht machten beide noch einen Skiausflug zum Hirschenkogel. Hier versuchte Natascha vergeblich, Botschaften zu senden. Es folgten Drohungen, Mitwisser zu beseitigen und ihren Liebsten etwas anzutun. "Ich hatte immer Angst, dass er diesen Menschen etwas tun würde." Obwohl er öffentlich nie aggressives Verhalten zeigte, trug Přiklopil zur Sicherheit stets einen Schraubenschlüssel mit sich.
Kampusch und Přiklopil: Eine ungewöhnliche Täter-Opfer-Beziehung
In den insgesamt achteinhalb Jahren wird Natascha Kampusch von Wolfgang Přiklopil manipuliert, kontrolliert und geschlagen. Zeitweise wiegt sie als Jugendliche weniger als bei ihrer Entführung, da sie hungern muss - Natascha rutscht in eine Essstörung hinein. Notfallsituationen, in denen ärztliche Hilfe kommen musste, gab es allerdings nie.
Stück für Stück hört die alte Natascha Kampusch auf, zu existieren. Ihr Selbstbewusstsein wird zerstört und das Haar abgeschnitten - alles ist heimlich auf Video festgehalten, wie Beamt:innen später bei einer Hausdurchsuchung herausfanden. Přiklopil folgte Natascha mit der Kamera sogar bis in die Dusche und Toilette. Hass, wie ihn manch andere:r in ihrer Situation empfinden würde, zeigt die Österreicherin ihrem Täter gegenüber jedoch nicht.
Medien und Psycholog:innen stellten daraufhin die wildesten Theorien auf: Vom Stockholm-Syndrom bis hin zur Vaterfigur ist alles dabei. Natascha selbst bestreitet Aussagen dieser Art - sie redet selten und ungern über das Thema sowie die Gerüchte potenzieller sexueller Übergriffe: "Ich kann nicht sagen, ob ich starke Gefühle empfunden habe, weil es zwischendurch auch von meiner Trauer und Verzweiflung überlagert war. Ich wusste nicht, was passieren wird. Ich wusste nicht, was ich denken und fühlen soll."
Přiklopil ist kein Freund - das steht fest. Dennoch ist er für eine lange Zeit Nataschas einziger menschlicher Kontakt. Normalität tritt ein: Beide frühstücken gemeinsam, feiern Geburtstage und verbringen ihren Tag miteinander. Eigenen Aussagen nach habe Natascha trotzdem nie die Wirklichkeit inklusive aller negativer Erfahrungen vergessen. Was genau Přiklopil für sie empfunden hat, weiß sie bis heute nicht. "Es wäre schön gewesen, das herauszufinden. Dann hätte man auch herausfinden können, was die Motive waren", fügt sie hinzu.
Am 23. August 2006 gelingt Natascha Kampusch endlich die Selbstbefreiung
3096 Tage lang schafft es Natascha nicht, zu fliehen - bis der Moment kam, der alles verändern sollte. Wie so oft saugte sie am 23. August 2006 in ihrer Rolle als "Sklavin" Přiklopils Wagen aus. Dieser bekam währenddessen einen Anruf und entfernte sich ein paar Schritte. Natascha sah ihre Chance und nutzte das kleine Zeitfenster - sie rannte aus der Garage, über den Zaun, durch die Schrebergärten um ihr Leben.
"Ich bin Natascha Kampusch" waren die ersten Worte, die sie Passant:innen zuschrie. Nachdem die erste Person nicht die Polizei verständigen wollte und drei weitere Leute die Bitte nach einem Mobiltelefon ablehnten, traf Natascha auf die Rentnerin Inge Pleyer, welche in der Küche ihres Gartenhauses hantierte. Trotz Verwirrung und Angst rief diese um 14:03 Uhr bei der Polizeistation im Nachbarort Deutsch-Wagram an. Beamt:innen trafen schnell ein, nahmen Nataschas Daten auf und stellten seltsame Fragen - so empfand es die damals 18-jährige Natascha.
Erste Begegnungen mit Psycholog:innen und das Wiedersehen ihrer Eltern
Ihre Eltern nach so vielen Jahren zu begegnen, löste gemischte Gefühle in Natascha aus: "Es war ein Moment der Freude, aber natürlich war ich auch ein wenig schockiert." Brigitta Sirny und Ludwig Koch wurde lange vorgeworfen, am Verschwinden ihrer Tochter beteiligt gewesen zu sein. Letzterer konnte ein Alibi vorweisen, weswegen vor allem Nataschas Mutter mit falschen Verdächtigungen zu kämpfen hatte.
Trotz der Tatsache, dass ihr Kinderzimmer so gut wie unberührt war, wollte Natascha nicht wieder zu Hause einziehen. Stattdessen mietete sie eine Wohnung in Wien an. Nebenbei wurde die Österreicherin von Psycholog:innen betreut - eine Selbstfindungsphase geprägt von Therapie und Panikattacken.
"Ein paar Sachen musste ich neu lernen. Diesen direkten Kontakt mit den Menschen. Das Nahsein hat mich anfangs irritiert. Auch Geräusche besser zu ertragen", erinnert sich Natascha an die ersten Wochen nach der Flucht zurück. Normaler Alltag und Wünsche wie das Nachlernen von Berufen, Ausbildungen sowie Studium mussten erst einmal warten.
Was passierte mit Wolfgang Přiklopil?
Přiklopil akzeptierte sein Schicksal schnell und versuchte gar nicht, Natascha hinterher zu rennen. Er fuhr mit seinem roten 850er BMW in die Stadt und parkte sein Gefährt in einem Einkaufszentrum, um die Polizei abzuschütteln. Hier sammelte ihn sein Bekannter und gleichzeitig Geschäftspartner Ernst Holzapfel ein, um Přiklopil in die Nähe des Wiener Nordbahnhofs zu bringen - dieser wurde später wegen Begünstigung angezeigt.
Der damals 44-jährige Wolfgang Přiklopil wurde noch am selben Tag in der Nähe des Wiener Praters von einer S-Bahn erfasst und tödlich verletzt. Rettungshelfer:innen bargen seinen Leichnam zwischen den Stationen Praterstern und Traisengasse. Heute liegt der Entführer unter falschem Namen auf einem Friedhof südlich von Wien begraben.
Mehr von Natascha Kampusch:
Da anfangs nicht genau eingeschätzt werden konnte, wie Natascha auf Přiklopils Tod reagieren würde, wurde dieser vorerst geheim gehalten. Als sie davon erfuhr, musste Natascha weinen. Später wurde ihr ermöglicht, sich im Wiener Institut für Gerichtsmedizin von ihm zu verabschieden. "Ich war überrascht, aber auch nicht sehr. Er hat gemeint, wenn ich mich je selbst befreien würde, dann würde er sich umbringen müssen", erläutert Natascha. Einen Gerichtsprozess gab es aufgrund des Suizides nicht.
Natascha fügt hinzu: "Mit seiner Mutter durfte ich nicht sprechen. Wir wurden aneinander vorbeigelotst. Mittlerweile bin ich froh darüber. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich etwas erklären möchte. Aber auf der anderen Seite: Was gibt es da zu erklären?" Auch 2023 herrscht beidseitig kein Kontakt.
Wie Natascha Kampusch von der Presse ins falsche Licht gerückt wurde
Bereits wenige Tage nach ihrem Entkommen spricht Nataschas Psychiater von einer "zweiten Viktimisierung" der Presse - mit über 300 internationalen Interviewanfragen ist das Medieninteresse einfach nur überwältigend. Am 06. September 2006 folgt im Rahmen der Sendung "Thema Spezial" das erste TV-Interview mit Christoph Feuerstein. Insgesamt 2,6 Millionen Menschen sahen zu, als die 18 Jahre alte Natascha das erste Mal vor den ORF-Kameras zu sehen war.
Mit ihrem selbstbewussten Auftreten und modernen Styling schockiert Natascha die Zuschauer:innen. Erwartet wurde ein Opfer, wie es im Buche steht - eine gebrochene, weinende, verlorene Person. Stattdessen möchte sie gesiezt und mit vollem Namen angesprochen werden. Wo eigentlich Bewunderung aufkommen sollte, entsteht Verwunderung, Hass und Mobbing. Es folgen diverse Ermittlungspannen und Verschwörungstheorien. Kurz gesagt: Victimblaming, Gaslighting, Mansplaining.
Auch das Horrorhaus inklusive Anwohner:innen sowie Nataschas Familie, Ärzt:innen und Polizist:innen werden von Journalist:innen belagert. "Meinen Eltern wollte ich nicht noch mehr Kummer bereiten. Ich habe mich vielen Leuten geöffnet - aber immer nur in dem Rahmen, in dem es ging", so Natascha. Dazu gehörten die Jugendanwältin Monika Pinterits, die Psychiater Max Friedrich und Ernst Berger, der Medienberater Dietmar Ecker sowie die Anwälte Gerald Ganzger und Gabriel Lansky.
Natascha Kampusch als Autorin: Autobiographie "3096 Tage" mit Verfilmung
Hinter dem Phänomen "Natascha Kampusch" steckt nicht nur eine Flut von Schlagzeilen, sondern eine reale Person. Natascha merkt früh, dass sie der endlosen Berichterstattung nicht entkommen kann - und geht daher selbst ins Fernsehen, wo sie entscheidet, wann sie wen trifft. In ihrer Talksendung "Natascha Kampusch trifft" (2008) spricht sie auf Puls 4 mit Prominenten wie Veronica Ferres oder Niki Lauda. Das Format wird nach drei Folgen wieder eingestellt.
Zwei Jahre später - am 08. September 2010 - bringt Natascha ihr erstes Buch "3096 Tage" heraus. 2013 folgt das gleichnamige dokumentarische Filmdrama mit Antonia Campbell-Hughes in der Hauptrolle. 2016 veröffentlicht die Autorin "10 Jahre Freiheit", 2019 "Cyberneider: Diskriminierung im Internet" - das erste ihrer Bücher, welches nicht primär biographisch orientiert ist - und 2022 "Stärke zeigen", das bisher neueste Werk.
Wie lebt Natascha Kampusch heute?
Bevor ich Natascha zum Gespräch treffe, bin ich trotz Vorbereitung und dem Wissen, eine sehr auf dem Boden gebliebene Person kennenzulernen, nervös. Meine Aufregung wird mir innerhalb Sekunden genommen, als mich Natascha mit einem einladenden Lächeln empfängt. Was folgt, ist ein anderthalbstündiges Gespräch voller Höhen und Tiefen, Lachen und Schweigen, Fragen und Antworten. Wir reden über das Davor, das Währenddessen und allem voran das Danach.
Natascha wollte nach ihrer Befreiung am liebsten alles ausprobieren und die verlorenen Jahre - verständlich - nachholen. Noch 2008 machte die Wienerin ihren Hauptschulabschluss, die daran anschließende Lehre zur Goldschmiedin brach sie ab. Fast zehn Jahre später brachte sie 2017 in Kooperation mit Gerda Guggenberger eine in Österreich produzierte Schmuckkollektion namens "fiore" heraus. Motiv war eine Blume mit geknicktem Stängel - der Knick steht für ihre Gefangenschaft, die Blüte für das Leben danach. Heute verdient sich Natascha ihren Lebensinhalt hauptsächlich über ihre Bücher.
Das Horrorhaus ist mittlerweile anteilig in Nataschas Besitz und steht leer - ihr Verlies wurde 2011 zugeschüttet. Im selben Jahr erbaute sie mit einem Team aus Einheimischen und der Hilfsorganisation "Don Bosco" ein Kinderkrankenhaus in Sri Lanka. Für die Zukunft würde sich Natascha wünschen, ihre Gefangenschaft mithilfe von Vorträgen in Schulen weiter aufzuarbeiten.
Kontakt zu ihren Eltern und der Außenwelt besteht momentan eher wenig. Auch der Idee, eine eigene Familie zu gründen, konnte Natascha bisher nicht nachgehen - der passende Partner oder Ehemann fehlt. Als Person des öffentlichen Lebens erweist sich dies schwieriger als gedacht. Ihren Optimismus verliert sie trotzdem nie! So heißt es 2023 gegenüber der Nachrichtenagentur dpa: "Die Tat hat die Richtung meines Lebens bestimmt, aber sie war nicht lebensbestimmend." Ein meiner Meinung nach sehr passendes, abrundendes Zitat für eine Heldin wie Natascha Kampusch.
*Dieser Beitrag enthält Affiliate-Links. Wenn du über diesen etwas einkaufst, bekommen wir von dem betreffenden Shop eine Provision.