Sich hin und wieder so richtig zu zoffen, ist für das Miteinander essenziell: Die Philosophin Svenja Flaßpöhler hat ein pointiertes Plädoyer für den produktiven und mutigen Streit verfasst – in Beziehungen und unserer Demokratie.
Streit sehen die meisten Menschen als etwas Unangenehmes, das man lieber vermeiden möchte. Dieses schlechte Image hat er aber zu Unrecht, findet Svenja Flaßpöhler, Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Die Deutsche gilt selbst als streitlustige Denkerin, als jemand, der gerne angreifbare Positionen vertritt. In ihrem Buch "Die potente Frau" (Ullstein, € 10,–) zum Beispiel kritisierte sie die #MeToo-Bewegung dafür, die Opferrolle von Frauen fortzuschreiben, und plädierte für eine neue Weiblichkeit, in der sich Frauen selbst ermächtigen. Kürzlich erschien nun ihr persönlich-philosophisches Essay "Streiten", in dem sie dafür eintritt, Konflikten nicht auszuweichen – das gilt sowohl im Privaten als auch für den öffentlichen Raum.
Raum für Differenz
Dabei gibt Flaßpöhler auch persönliche Einblicke: dass sie als Kind miterlebt hat, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater heftig stritten – und sie oft Angst vor einer Eskalation der Auseinandersetzungen hatte. Oder wie sie als Redakteurin beim Deutschlandfunk Kultur auf Ablehnung und Skepsis stieß, weil sie sich – entgegen der Mehrheitsmeinung in dem Sender – dafür aussprach, migrationskritische konservative Denker einzuladen. Streit, so Flaßpöhler, ist nicht nur essenziell für unsere persönlichen Beziehungen, sondern auch für das Funktionieren einer lebendigen Demokratie.
"Streit bringt Ordnungen in Bewegung", sagt die Philosophin auf die Frage, warum er denn besser sei als sein Ruf. Und verweist darauf, dass "Beziehungen schnell erstarren, wenn sie nicht hin und wieder dynamisiert werden. Oder sie geraten unter extreme Spannung, weil Beziehungspartner sich verändern und bestimmte Mechanismen nicht mehr funktionieren. Der Streit justiert das Verhältnis der Partner neu, tariert Nähe und Distanz aus." Ihr Credo: "Menschen müssen nicht immer übereinkommen. Im Gegenteil: Nur wo Differenz Raum hat, sind Einheiten möglich. Das gilt privat und auch gesellschaftlich." Der Streit ist also nicht das, was – wie gemeinhin oft angenommen – Menschen trennt, sondern etwas, das sie miteinander verbindet.
Konsens als Ideal
In den vergangenen Jahren ist im politischen Kontext zunehmend von einer "Polarisierung" oder "Spaltung" der Gesellschaft die Rede. Zwei Begriffe, die wir laut Flaßpöhler negativ verwenden. "Der Grund ist, dass der Konsens als angestrebtes Ideal gilt. Was hinter diesem Ideal zurückbleibt, ist schlecht. Ich denke, wir müssen lernen, Unversöhnlichkeiten als kommunikative Realität anzuerkennen und auch ihre Berechtigung zu sehen." Und sie ergänzt: "Der deutsche Jurist und politische Philosoph Carl Schmitt hat das treffend formuliert: ,Die politische Welt ist ein Pluriversum, kein Universum.‘ Das gilt bei genauem Hinsehen auch im Privaten. Menschen haben, je nach Erfahrungshintergrund, verschiedene Perspektiven auf einen Gegenstand. Manchmal liegen diese so weit auseinander, dass man denkt: Wie kannst du das nur so sehen? Ich verstehe dich nicht! Die Herausforderung liegt darin, diese Pluralität der Perspektiven zuzulassen, ohne die Verbindung zu kappen. Also nicht zu sagen: Wenn du das so siehst, will oder kann ich nichts mehr mit dir zu tun haben. Genau hier liegt die Chance des Streits: Solange wir streiten, solange wir Argumente finden, stehen wir in Beziehung."
Von politischen Entscheidungsträger:innen scheinen die Menschen aber oft genervt zu sein, wenn sie zu viel diskutieren. Man denke an die Ampelregierung in Deutschland oder die vergangene Große Koalition in Österreich, die deswegen in Diskredit geraten sind. Liegt es wirklich am Streit oder krankt unsere Debattenkultur? Flaßpöhler sieht das differenziert: "Es ist ein Unterschied, ob in einer Koalition oder am Küchentisch gestritten wird. Vom Küchentisch kann man nach stundenlangem Gerangel aufstehen und sagen: Hör mal zu, wir kommen jetzt hier nicht weiter. Lass uns schlafen gehen. Manchmal hat man dann trotzdem – oder gerade deswegen – guten Sex. Oder man wacht morgens auf und denkt: Gut, er sieht das anders, na und? Diese Differenz ist tragbar in unserer Beziehung. Vielleicht reden wir auch in einer Woche noch mal drüber. Das ist in einer Koalition, die Entscheidungen fällen und regierungsfähig sein muss, schon anders."
"Tötungslust" im Netz
In einem gelungenen Streit gibt es laut der Philosophin "eine Balance zwischen Trennungs- und Bindungskräften. Aggressionen werden in ein Argument verwandelt, oft in überspitzter Form, als angriffslustige Polemik. Aber die Verbindung zum anderen wird, so offensiv und hart ein Schlagabtausch auch ist, immer gehalten; trotz größter Differenzen wollen die Streitenden eine Welt teilen. Und so finden sie eine Sprache, die dem anderen immer einen Anschluss ermöglicht. In einem misslungenen Streit stimmt das Mischungsverhältnis der Kräfte nicht. Wenn die Trennungskräfte zu stark sind, schießt man unter die Gürtellinie. Haben die Bindungskräfte Überhand, entsteht das Problem des Konsensdrucks. Es gehört zu den Aufgaben einer Gesellschaft, für Räume und Bedingungen zu sorgen, in denen gelungener Streit im beschriebenen Sinn möglich ist."
Leider erleben wir oft aber das Gegenteil. In den sozialen Medien, so Flaßpöhler, lässt sich gar nicht gut streiten, weil sich dort oft die "Tötungslust ungehemmt Bahn bricht". Der Streit, das zeigt Flaßpöhler auf, ist mehr als ein bloßer Konflikt. Er ist die Chance, sich auf einer tieferen Ebene zu begegnen, sich zu reiben, ohne zu zerstören – und damit das Fundament jeder lebendigen Beziehung, ob zwischen Menschen oder in der Demokratie.
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