©Midjourney/Patrick Ruiner
Renaturierung ist in aller Munde, gleichzeitig entfremden wir uns stetig von unserer natürlichen Umgebung. Wie können wir unsere Beziehung retten? Ab auf die Therapie-Couch! Über nötige Maßnahmen, um wieder zueinanderzufinden.
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In einer Zeit zunehmender Beschleunigung verstummt die Beziehung zwischen uns und unserer Umwelt immer mehr. Das wird deutlich, wenn wir darüber nachdenken, wie wir mit der Natur in unserem Alltag in Kontakt treten. Wann hast du dich etwa das letzte Mal gefragt, welche Pflanzenarten im benachbarten Park wachsen? Warum sich die Biodiversität in Gärten verändert? Oder auch welche Tiere und Insekten hierzulande leben und wie sie Ökosysteme beeinflussen? Die meisten von uns nehmen Grünflächen und Naherholungsgebiete als selbstverständlich wahr – als etwas, das halt einfach da ist.
Das Fatale daran: Wir verhalten uns ziemlich egoistisch, verbrauchen Jahr für Jahr mehr Ressourcen, als es auf der Erde gibt. Gleichzeitig wachsen die menschengemachten Müllberge. Dabei vergessen wir, dass wir ohne eine intakte Natur nicht (über-)leben können. Höchste Zeit, Verantwortung zu übernehmen und eine Verbindung auf Augenhöhe aufzubauen. Drei Expertinnen über aktuelle Schräglagen – und mit welchen Schritten wir wieder zueinanderfinden.
Wie wir uns entfremden
Das Problem: "Durch unsere Lebensweise in den letzten Jahrzehnten gibt es so gut wie keinen Fleck auf der Erde mehr, der von der Menschheit nicht direkt oder indirekt belastet ist", gibt Marion Mehring vom deutschen Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) zu bedenken. "Sei es durch Umweltverschmutzung, Stickstoffeintrag durch die Luft oder Mikroplastik. Selbst in den entlegensten Ecken wie etwa der Tiefsee oder Arktis finden sich Spuren der Zivilisation, wie zum Beispiel Plastikmüll." Die Kenntnis darüber sei relevant, wenn es um die Frage gehe, was heute überhaupt als Natur wahrgenommen wird. Welche Biodiversität wollen wir zukünftig schützen? "In unserer Arbeit gehen wir immer davon aus, dass Natur nicht ohne Gesellschaft verstanden werden kann. Beides bedingt sich gegenseitig und ist abhängig voneinander", weiß Mehring.
Dabei spielt auch eine Rolle, wie wir unsere Umwelt als Menschen wahrnehmen. "In der Wissenschaft arbeiten wir zum Beispiel mit dem sogenannten Shifting-Baseline-Syndrom. Das bedeutet, dass wir uns unwissentlich zunehmend daran gewöhnen, dass eine Verarmung der Artenvielfalt stattfindet." Dass die Gärten nicht mehr so aussehen wie früher, nehmen wir also einfach hin – ohne die Gründe dafür zu hinterfragen. "Das heißt, viele Menschen haben den Bezug zur Natur eigentlich schon verloren." Häufig werde angenommen, dass das nur Städter betrifft, doch dazu fehlen Studien.
Die Lösung: Wichtig wäre laut Mehring, hinsichtlich des Verlusts der Artenvielfalt die emotionale Ebene anzusprechen. Denn das Problem ist nicht nur, dass es nicht mehr so bunt aussieht wie früher, sondern auch, dass der Verlust weitreichende Folgen haben kann: "Etwa in der Medizin. Viele Medikamente basieren auf Wirkstoffen aus bestimmten Pflanzen." Deshalb sei es wichtig, den Bezug wiederherzustellen. Das könne durch einen eigenen kleinen Garten gelingen, empfiehlt die Expertin.
"Man muss sich natürlich darin betätigen, vielleicht auch mal die Insekten beobachten oder eine Fläche zulassen, die ein bisschen wild sein darf und in der unterschiedliche Pflanzenarten wachsen können." Was zählt, sei der Blick für Details, um eine Faszination zu wecken. "Schaut man sich eine Hummel ganz nah an, wird man etwa sehen, dass die eigentlich total kuschelig ist" – und man wird wollen, dass sie den Garten noch öfter besucht.
Mensch-Natur-Beziehungen: vom Geben und Nehmen
Das Problem: Jahr für Jahr überschreiten wir die Grenzen unseres Planeten. Allein 2024 verbraucht jeder Mensch insgesamt die natürlichen Ressourcen von 1,7 Erden. Dass sich unsere Lebensweise nicht mehr ausgeht, ist also offensichtlich. "Vor allem in westlichen Industrieländern sieht sich der Mensch als der Natur überlegen an", warnt Martina Artmann, die sich in ihrer Forschung auf urbane Mensch-Natur-Beziehungen spezialisiert hat. "Diese Entfremdung wird in Städten beispielsweise räumlich sichtbar. So ist die Verfügbarkeit vieler Ressourcen wie etwa von Nahrungsmitteln oder von all den Materialien, die für den Bau von Straßen oder Gebäuden benötigt werden, oftmals nicht vor Ort gegeben, sondern vom Hinterland abhängig."
Dabei werde die Natur als lebloses Objekt mit frei verfügbaren Ressourcen wahrgenommen – dass diese endlich sind, wird einfach ausgeblendet. Besonders bitter: Die rücksichtslose (Über-) Nutzung und Zerstörung wird als Normalzustand betrachtet. Wir leben – vor allem im Globalen Norden – auf zu großem Fuß, warnt Artmann. Bereits sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen seien überschritten. "Wenn wir als Gesellschaft hier keinen tiefen Wandel in Richtung Nachhaltigkeit hinbekommen, laufen wir Gefahr, dass wir Kipppunkte überschreiten und ein gutes Leben auf der Erde für uns früher oder später nicht mehr möglich sein wird."
Rafaela Schinegger von der BOKU Wien sieht die Folgen davon auch in der aktuellen Landschaftsentwicklung: "In den Städten wird der Grünraum durch Bebauung zunehmend eingeschränkt, ungebremste Urbanisierung führt zu enormen Verlusten natürlicher Ressourcen." Das wiederum führe unweigerlich zum Verlust wertvoller Lebensräume. Den größten Konflikt sieht sie in der "Abwägung zwischen wirtschaftlichem Wachstum und dem dringenden Erhalt von Ökosystemen, die die Grundlage für unsere Gesellschaft sind, unser Überleben und langfristiges Wirtschaften sichern." Schinegger ist überzeugt: "Die Natur würde uns ganz deutlich sagen, dass wir ihre Regenerationsfähigkeit überschätzen und ihre Vielfalt und Gesundheit extrem gefährden."
Die Lösung: Für die Expertin geht es um das große Ganze: "Es ist an der Zeit, dass wir verstehen, dass die Zerstörung von Grünflächen, die zunehmenden klimatischen Extremereignisse und die öffentliche Gesundheit direkt miteinander zusammenhängen." Der Schutz von Wäldern und Feuchtgebieten werde viel zu oft als reines Umweltthema betrachtet, "dabei sind die gesundheitlichen und sozialen Notwendigkeiten und Vorteile wie Erholungsnutzung, Hochwasserschutz oder Klimaregulierung offensichtlich". Eine wichtige Maßnahme sieht sie in den viel diskutierten Renaturierungsprogrammen, "also Auen wieder anzubinden und somit zusätzliche Retentionsflächen zu schaffen".
Um ein Verantwortungsbewusstsein voranzutreiben, fokussiert sich Artmann auf die Vision der Mensch-Natur-Partnerschaft: "Das heißt, wir überwinden das hierarchische Weltbild." Wichtig sei, dies als erfreulichen Wandel anzusehen – und so aus der negativen Verzichtsdebatte rauszukommen. "Die Argumente sind, dass solche Maßnahmen die individuelle Entscheidungsfreiheit einschränken." Dabei blenden wir aus, inwiefern unser Konsum Folgen für zukünftige Generationen hat und damit wiederum die Freiheit anderer einschränkt. Ihr Tipp: Mehr Wertschätzung, auch auf alltäglichen Wegen. "Wir sollten uns in Dankbarkeit üben und können diese sichtbar machen, indem wir beispielsweise Liebesbriefe an die Stadtnatur schreiben."
So werden wir wieder glücklich miteinander
Die gute Nachricht: Wir können unsere Beziehung kitten – wenn wir wirklich wollen und erkennen, worum es dabei für uns geht. "Es ist von entscheidender Bedeutung, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme langfristig auch ökonomische Stabilität und Sicherheit bringt", untermauert Schinegger. Häufig werde überschätzt, "inwiefern technologische Innovationen die Umweltprobleme allein lösen könnten, ohne dass ein grundlegender Wandel in unserem Umgang mit der Natur erfolgt". Das sei ein Trugschluss. Denn Wissen allein reiche dafür nicht, merkt auch Biodiversitätsforscherin Mehring an. "Wichtig ist, zu verstehen, was jede:r Einzelne dazu beitragen kann, damit eine Transformation gelingt." Das beginnt mit kleinen Schritten wie dem eingangs erwähnten Garten oder naturbelassenen Ecken im Sportclub, so Mehring. "Wichtig ist es, über die eigene Blase hinaus einen Bezug herzustellen."
Denn zwar gibt es globale politische Zielvorgaben "wie etwa die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen", gibt Altmann zu bedenken. "Doch diese vernachlässigen dabei den nötigen inneren Wandel, damit die Erreichung realistisch wird." Um diese Lücke aufzuzeigen, wurden die Inner Development Goals (IDGs) definiert. "Diese sagen aus, dass wir zuerst eine gesunde Beziehung zu uns selbst aufbauen sowie systemisches Denken und soziale Skills lernen müssen, um die SDGs umzusetzen", kennt die Forscherin die Hintergründe. Dass wir die Bedürfnisse der Natur endlich verstehen, ist den Forscher:innen zufolge unerlässlich für einen nachhaltigen Wandel. Ein wichtiger Schritt dafür seien Bildung und Forschung. Artmann: "Zudem sollten wir als Gesellschaft überlegen, wie wir der Natur eine Stimme geben können, etwa indem wir sie als Rechtsperson anerkennen, wie es zum Beispiel in Neuseeland bereits gehandhabt wird."
Positive Auswirkungen auf die Wirtschaft: Schaffen wir es, eine harmonische Beziehung mit unserer Umwelt zu führen, profitieren wir davon in mehrerer Hinsicht, ist Artmann überzeugt: "Wir werden zufriedener und ausgeglichener sein." Eine der Voraussetzungen dafür sei, unseren Konsum von tierischen Lebensmitteln drastisch zu reduzieren. Die Expertin verweist in dem Zusammenhang auf das Konzept "essbare Städte" – Projekte, bei denen Lebensmittel im urbanen Raum angebaut werden und "in denen wir als Stadtbewohner:innen selbst die Hände in die Erde stecken und über Naturerfahrung und Naturbildung lernen, wo unser Essen herkommt".
Letztendlich geht es darum, offen für Alternativen wie diese zu sein, sagt Schinegger, "und sich alternative Zukunftsvisionen vorstellen zu können – wie eine Wirtschaft, die auf Kreislaufprinzipien basiert oder auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtet ist".