Inklusion: Es geht um mehr als Akzeptanz
©Greta ScheichenostWas bedeutet Inklusion tatsächlich? Wie kann Inklusion wirklich funktionieren? Und wie werden diese unsäglichen Barrieren im Kopf endlich abgebaut? Unsere Gastautorin Greta Scheichenost ist Sonder- und Heilpädagogin. Für WOMAN.at hat sie ihre Gedanken zum Thema aufgeschrieben - und plädiert für mehr Respekt. Ein Kommentar.
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Stell dir einmal vor wir alle sind gleichwertig und eine Norm, die gibt es nicht. Stell dir eine Gesellschaft vor, in der es ganz normal ist, verschieden zu sein. Stell dir vor, dass es egal ist wo du herkommst, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe du hast. Oder in wen du dich verliebst. Und jetzt stell dir vor, dass wir alle - inklusive unserer Verschiedenheiten - friedlich miteinander leben. Einfach so. Was du dir soeben ausgemalt hast, das nennt man Inklusion. Und genau darum geht es in diesem Text.
Besonders seit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention wird das große Wort Inklusion häufig mit dem Thema Behinderung in Verbindung gebracht. Es begegnet uns immer öfter. Wir alle haben dieses Wort schon einmal gehört oder gelesen. Vielleicht sogar schon einmal selbst verwendet. Im Vorbeigehen sozusagen. Aber was bedeutet Inklusion eigentlich wirklich und noch viel wichtiger: was können wir tun um sie auch aktiv zu leben?
Was bedeutet Inklusion wirklich?
Häufig wird bei dem Wort daran gedacht, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam in die Schule gehen. Es wird dabei an die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am täglichen gesellschaftlichen Leben gedacht. Und ja – all das gehört zum Thema Inklusion. Es geht aber nicht darum, dass Menschen mit Behinderung von Menschen ohne Behinderung aufgenommen und integriert werden. Das wäre nämlich Integration. Es geht nicht darum, dass eine Gruppe, eine andere Gruppe dazugehören lässt am großen Ganzen. Das würde nämlich bedeuten, dass die eine Gruppe das Recht hat zu entscheiden, wer dabei sein darf. Und so läuft es nicht. Nicht bei der Inklusion. Es geht um die gleichberechtigte Teilhabe. Und zwar von uns allen. Inklusion betrifft jede und jeden von uns. Vielen ist das einfach noch nicht bewusst.
Die Annahme von Vielfalt ist Grundstock einer inklusiven Gesellschaft. Individuelle Eigenschaften und Voraussetzungen werden nicht gewertet, sondern als selbstverständlich betrachtet. Es wird zum Beispiel nicht unterschieden, ob ein Mensch eine Behinderung hat oder eben nicht. Eine Behinderung ist eines von ganz vielen Merkmalen, die einen Menschen ausmachen. Genauso wie die Haarfarbe sozusagen. Die Inklusion interessiert es nicht, ob du körperlich beeinträchtigt bist oder eine Lernbehinderung hast. Ob du blond bist oder schwarzhaarig. Ob du einen Mann liebst oder eine Frau. Die Inklusion interessiert welche Bedürfnisse du hast. Sie geht auf diese Bedürfnisse ein und noch viel wichtiger: sie schafft Rahmenbedingungen um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Wie können Barrieren abgebaut werden?
Für Menschen mit Behinderung im Speziellen ist es wichtig, dass diese Strukturen und Rahmenbedingungen geschaffen werden, um Barrieren abbauen zu können. Und ja, ich denke dabei an haptische Barrieren im Alltag, die manchen RollstuhlfahrerInnen den Zugang zu den Öffis erschweren. Ich denke dabei auch an eine öffentliche Veranstaltung, die nicht ganz selbstverständlich für gehörlose Personen gedolmetscht wird. Ich rede hier auch davon, dass Texte im öffentlichen Raum nicht klarerweise in einfacher Sprache verfasst werden, um sie für alle Menschen verständlich zu machen. Aber ich denke dabei vor allem an die Barrieren in unseren Köpfen.
Inklusion leben: Es ist normal, verschieden zu sein
Die Vorstellung, dass es eine, richtige Norm gibt und jeder Mensch, der von dieser Norm nur im Geringsten abweicht nicht normal ist - diese Vorstellung muss verschwinden. Wir müssen begreifen, dass in unserer Gesellschaft die Ausnahme die Regel ist. Wir müssen umdenken und zwar nicht morgen, sondern heute. Es liegt an uns allen eine Gesellschaft zu werden, die verschiedene Personen ihre verschiedenen Besonderheiten einbringen lässt. Wenn dieses Umdenken passiert, kann Inklusion ganz automatisch von Anfang an geschehen. Auch in der Schule zum Beispiel.
So würde es funktionieren, dass Anis lernen kann im Zahlenraum 100 zu dividieren und Anna gleichzeitig lernt sich selbstständig die Schuhe anzuziehen. Ganz nebenbei würden Anis und Anna dann außerdem lernen, dass es wichtig ist einander zu helfen und den jeweils anderen wahrzunehmen. Ganz nebenbei würden die beiden lernen, dass es selbstverständlich ist, dass verschiedene Menschen, verschiedene Stärken haben und es wichtig ist diese Fähigkeiten und Interessen auszubauen, anstatt ihnen viel zu oft nur ihre Schwächen aufzuzeigen.
Anis und Anna sind Teil unserer Gesellschaft. Beide haben das Recht zu lernen. Und das Recht, ganz individuell gefördert zu werden. Wer meint das wäre utopisch liegt falsch. Utopisch wäre es zu meinen, dass alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt, das exakt Selbe lernen können. In einer inklusiven Schule wäre das Lernziel Dividieren im Zahlenraum 100 genauso wichtig wie das Lernziel Schuhe anziehen. Ganz wertfrei. In meinem Alltag als Sonderpädagogin sehe ich viele dieser Lernerfolge. Und ich feiere jeden einzelnen mit den Kindern. Diese Fortschritte der Kinder und ihre Freude am Lernen tragen einen großen Teil dazu bei, dass ich meine Arbeit gerne mache. Eine Arbeit, für die mir immer wieder Lob ausgesprochen wird. Weil man selbst könnte das ja nicht. Mit "diesen" Kindern arbeiten.
Es freut mich, wenn Menschen meine Arbeit schätzen oder ich Komplimente dafür bekomme. Viele dieser Leute wissen jedoch gar nicht, ob ich meine Arbeit eigentlich auch gut mache. Schon alleine die Tatsache, dass ich mir diesen Job "antue" reicht aus, um Anerkennung zu erhalten. Es ärgert mich, dass oft davon ausgegangen wird, dass die Arbeit mit Kindern mit Beeinträchtigung besonders mühsam wäre. Die Wahrheit ist - ich arbeite nicht mit behinderten Kindern. Ich arbeite mit Kindern. Ja sie haben Schwächen und Schwierigkeiten bei gewissen Dingen. Genauso haben sie jedoch Stärken und zwar ziemlich viele. Wäre unsere Gesellschaft schon durch und durch inklusiv, würde es nicht mehr passieren, dass sie viel zu oft nur auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden.
Wie Empathie wachsen kann
Die Leute würden erkennen, dass das nicht nur Jonas im Rollstuhl ist, der sie da in der Straßenbahn anspricht. Sondern auch Jonas, der Musik liebt und jeden Wanda-Liedtext auswendig kann. Sie würden begreifen, dass er noch nicht selbstständig Stiegen steigen kann, aber Rhythmus im Blut hat und eine wunderschöne Gesangsstimme. Inklusiv zu sein würde bedeuten, dass wir alle nicht immer schneller, besser und perfekter sein müssen, um dazuzugehören. Wenn alle Barrieren verschwinden und Menschen mit Beeinträchtigung nicht daran gehindert werden teilzuhaben, würden viele Begegnungspunkte entstehen. Das würde Unsicherheit und Unbeholfenheit verfliegen und Empathie wachsen lassen.
Es ist wahrscheinlich noch ein langer Weg hin zur inklusiven Gesellschaft, aber die ersten Schritte sind gesetzt und wir müssen mit Mut, Motivation und Freude weitergehen. Wir sollten uns trauen unsere eigenen Ansichten zu hinterfragen, um Weitsicht zu erlangen. Wir brauchen den Austausch und wir müssen einander zuhören, um die Bedürfnisse des anderen zu verstehen.
Es geht um mehr als Akzeptanz
Viele mögen behaupten es wäre naiv, aber ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der wir uns nicht nur tolerieren und akzeptieren, sondern vor allem respektieren. Ausgrenzung und Hass sollten keinen Platz haben. Diversität sollte als Chance genutzt werden. Wir sollten anfangen unsere Verschiedenheiten nicht nur zu erkennen, sondern zu feiern.
Stell dir nun zum Schluss noch einmal etwas vor. Und zwar, dass wir uns diese inklusive Gesellschaft nicht mehr in unseren Köpfen ausmalen müssen, weil wir sie wirklich leben. Stell dir vor, dass Vielfalt und Heterogenität als selbstverständlich angesehen werden. Und dass verschieden sein nur noch eines ist – ganz normal!