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Von beruflichen bis privaten Veränderungen: Die Antworten auf die großen Fragen in den einzelnen Lebensphasen waren früher klarer. Wie man trotzdem eine Entscheidung trifft und welche Rolle gesellschaftliche Normen noch immer dabei spielen.
Soll ich eine Familie gründen, den Job wechseln, eine hohe Investition tätigen, ins Ausland ziehen – oder noch mal ganz neu beginnen? Immer wieder stehen wir vor zentralen Entscheidungen. Nicht selten drängen sich diese essenziellen Fragen in bestimmten Lebensphasen – oder Übergängen von der einen in die nächste – in den Vordergrund. Doch wie soll man wissen, wann tatsächlich der Moment, der richtige Zeitpunkt, dafür gekommen ist, wo so viele unterschiedliche Wege möglich sind. Früher gab es von menschlichen Biografien jedenfalls ganz konkrete Vorstellungen, wie diese verlaufen sollten: Schule, Ausbildung, Beruf, Heirat, Kinder – ein linearer Lebenslauf, der aber wenig Spielraum für individuelle Entscheidungen und Bedürfnisse ließ. Für Frauen galt das noch viel mehr als für Männer. Erst seit 1975 dürfen sie beispielsweise ohne männliche Zustimmung arbeiten gehen. Heute können wir unser Leben glücklicherweise viel freier gestalten. Trotzdem haben noch immer "soziale Normen sehr wohl einen Einfluss auf bestimmte Entscheidungen oder auf individuelle Lebensverläufe", sagt die Soziologin und Ethnologin Eva-Maria Schmidt.
Sehr viel getan hat sich laut ihr zum Beispiel in puncto Kinderwunsch. "Lange Zeit gab es nicht einmal die Idee, dass man das überhaupt entscheiden oder verhindern kann. Das kam erst mit dem medizinisch-technischen Fortschritt auf. Prinzipiell gibt es mittlerweile sehr viele Optionen, mit wem ich in welcher Form und zu welchem Zeitpunkt Nachwuchs kriegen möchte. Ich kann und darf also nicht nur die Entscheidung treffen, ob ich das überhaupt will, sondern habe auch unterschiedliche Möglichkeiten dazu. Das heißt, die Optionen haben sich vervielfältigt." Stichwort: Social Freezing oder alternative Familienmodelle. Schmidt gibt aber auch zu bedenken: "Zwar gibt es heute zumindest einen Diskurs über unterschiedliche Lebensformen, genauso wie es in Ordnung ist, kein Kind zu bekommen. Ob es tatsächlich akzeptiert ist, ist eine andere Frage. In unserer Forschung sehen wir, dass das, was gesellschaftlich als Ideal erachtet wird, also die Norm ist und nicht viel Legitimation bedarf, schon noch immer etwas anderes ist. Und zwar die heteronormative Kleinfamilie mit zwei Kindern, die idealerweise hauptsächlich von Frauen großgezogen werden."
In der Rushhour
Mehr Wahlfreiheit in unseren Biografien bringe nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile mit sich, wie die Soziologin erklärt: "Einerseits habe ich die Möglichkeit, aus einer Vielfalt von Optionen auszuwählen. Gleichzeitig steht das Individuum unter sehr großem Druck, das Bestmögliche zu entscheiden. Immer wieder taucht da die Frage auf, ob es nicht noch etwas Besseres gibt. Das betrifft Beziehungen, den Beruf, das gesamte Leben."
Das neoliberale System, in dem wir heute global leben, sei eines, "wo man sich ständig selbst optimieren muss, um mithalten zu können, und in dem gleichzeitig sehr viel unterschiedliche Erwartungshaltungen auf einen einprasseln". Ständig daran zu arbeiten, die beste Version seiner selbst zu werden, die Karriere voranzutreiben, eine Familie zu gründen – und sich bestenfalls in kein ökonomisches Abhängigkeitsverhältnis zu dem oder der Partner:in zu begeben, sei eine Herausforderung, die gerade – aber nicht nur – in der Rushhour des Lebens utopisch sei.
Dass sich Lebensläufe umfassend pluralisiert und individualisiert haben, weiß auch die Schweizer Autorin und Philosophin Barbara Bleisch. "Viele reisen oder jobben, bevor sie einen festen Arbeitsvertrag unterzeichnen oder ein Studium in Angriff nehmen, und sie leben in offenen oder wechselnden Beziehungen, ehe sie sich, wenn überhaupt, längerfristig binden." Dazu komme, dass der Arbeitsmarkt ein stetes Umlernen verlange, sich viele dank des medizinischen Fortschritts auch viel länger vital fühlen würden. "Ein Stück weit scheinen wir sogar fast auf dem Weg in eine altersirrelevante Gesellschaft zu sein, in der wir die Chronologie unseres Lebens nach eigenem Gutdünken gestalten. Dennoch hat nicht alles seine Zeit, die wir ihm als Stempel aufdrücken möchten, sondern vieles hat auch eine Eigenzeit, die sich nicht nach unseren Wünschen richtet – etwa die sogenannte biologische Uhr."
Chance statt Krise
In ihrem jüngst erschienenen Buch "Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre" (Hanser, € 25,–) widmet sich Bleisch einer Lebensphase, die – verglichen etwa mit der alternden Gesellschaft – bislang weniger im Fokus der medialen Aufmerksamkeit stand. Sie beschreibt sie deswegen als "weiße Landkarte der Philosophie". Wie es dazu kam? "Über die mittleren Jahre wird oft ausschließlich im Krisenmodus gesprochen. Ich wollte diesem düsteren Bild etwas entgegensetzen und die antike Vorstellung der Lebensmitte als eine Zeit der Blüte wiederbeleben und aufzeigen, welche Schätze gerade die mittleren Jahre bergen – etwa Lebenserfahrung oder Souveränität", erklärt Bleisch, selbst 51 Jahre, ihre Motivation.
Dabei ginge es ihr nicht darum, die drängenden Fragen der Bilanzierung auszublenden oder nicht einzugestehen, dass es schmerzvoll sein könne, festzustellen, "dass sich Türen langsam schließen". Aber: "Vielleicht kann die Philosophie dazu anregen, selbst krisenhafte Phasen nicht nur als Zeit der Düsternis zu sehen, sondern auch als Moment der Existenzerhellung, wie das der Philosoph Karl Jaspers nannte – also als Momente, in denen Wesentliches ins Bewusstsein gelangt, dem sich zuzuwenden auch in neue Freiheiten führen kann."
Rück- und Ausblick
Die Mitte des Lebens ist für viele auch der Moment, in dem klar wird, dass sich Entscheidungen nicht mehr rückgängig machen lassen. Bleisch schlägt in ihrem Buch vor, der schmerzlichen Reue das eher nüchterne Bedauern an die Seite zu stellen. Was bereut die Philosophin selbst? "Manchmal, dass ich mich nicht früher aus Beziehungen befreien konnte, die mir nicht guttaten – aber ich habe damals nicht erkannt, dass sie mir nicht bekamen. Das ist auch eine der wichtigsten Lektionen, die wir lernen können: Wir gehen oft zu Unrecht hart mit uns ins Gericht, wenn wir zurückblicken, weil wir vieles eben zuerst erfahren mussten, durchleben mussten, um klug genug zu werden, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen."
Abschließend bleibt die Frage: Kann es den "richtigen Zeitpunkt" überhaupt geben? Eine allgemeingültige Antwort auf diese gibt es nicht. Eine feste Größe ist er sicher nicht, vielmehr ein subjektives Empfinden. Oder er ist immer genau dann, wenn wir uns bereit fühlen, eine Entscheidung zu treffen, egal ob sie den gesellschaftlichen Normen entspricht oder nicht.
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