Chefredakteurin Kristin Pelzl-Scheruga meint: wir können einander gar nicht genug vorlesen
Das Schönste am Kranksein als Kind? Dir wird vorgelesen.
Es waren die Masern oder vielleicht auch die Röteln und meine Mama hatte mir auf der Wohnzimmercouch, an der Stelle, wo sonst nur Papa liegen durfte, wenn er fernsah, das Krankenbett eingerichtet. Ich brauchte nur die Hand aus der Tuchent zu strecken und hatte alles, was ich brauchte: Tee, Soletti mit Frischkäse-Aufstrich, das Fieberthermometer und „Das Doppelte Lottchen“ von Erich Kästner.
Ich konnte zwar schon ein wenig lesen und schreiben; beides war aber noch anstrengend. Also las mir Mama das ganze Buch vor. Und dann nochmals. Sie lag dabei neben mir auf der Couch und am liebsten wäre ich nie wieder gesund geworden.
Ich war so traurig, dass die Geschichte zu Ende war, dass ich beschloss, sie selbst weiter zu schreiben. Die Fortsetzung von Kästners Roman gibt es noch irgendwo – auf vergilbten Zettelchen in lautmalerischen Schriftzügen, in denen das E fünf statt drei Querstriche hat. Mein Kopf war stets schneller, gefinkelter als meine Hände. Ich wechselte daraufhin das Medium und nahm weitere Geschichten rund um die Zwillingsschwestern auf dem Kassettenrecorder meines Großvaters auf. Heute würde man vielleicht sagen: netter Podcast einer Sechsjährigen.
Warum ich Ihnen das erzähle? Weil heute, am 18.3.2021 der „Österreichische Tag des Vorlesens“ ist. Und weil ich glaube, dass man nie genug vorlesen kann: seinen Kindern, seinen Enkeln, seinen Eltern, seinen Lieben, wem auch immer. Es ist eines der größten Geschenke, die wir jemandem machen können: wir schenken damit unsere Zeit, unsere Stimme, unsere Aufmerksamkeit. Wir schenken Stimmungen, Bilder, neue Welten, Lachen und Weinen.
Ich war eine penetrante Aufs-Vorlesen-Drängerin. Die Putzhilfe meiner Eltern hatte vermutlich sogar Angst vor mir. Ich zwickte sie so lange in die Waden, bis sie das Wettex fallen ließ und mir endlich aus meinen Pixi-Büchern vorlas.
Natürlich habe ich auch meiner Tochter, heute 14, vorgelesen, gefühlt tausende Bücher. Auch sie war sehr fordernd und beharrte jeden Abend auf einer „Gaschichte“ vor dem Einschlafen. Wie gerne hätte ich mich, meist todmüde vom Tag, einfach nur neben sie gelegt, ein bisschen streicheln, und Gute Nacht. Aber keine Chance. Entweder ich musste ihr etwas vorlesen oder Geschichten erfinden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass auch etwas vom Doppelten Lottchen dabei gewesen ist.