
Die Burg-Schauspielerinnen Dörte Lyssewski und Maresi Riegner (v. l. n. r.)
©WOMAN/Christoph LiebentrittIn einer Welt, in der viele einfache Antworten wollen, fordert das Stück "Ellen Babić" mit Dörte Lyssewski und Maresi Riegner auf, sich mit anderen Perspektiven zu beschäftigen.
"Nicht jetzt! Falsches Timing!" – Das waren die ersten Gedanken, die Dörte Lyssewski durch den Kopf gingen, als sie sich im Jänner beim Eislaufen die Hand gebrochen hat. "Gott sei Dank nicht das Bein, sonst hätte ich die Produktion absagen müssen, aber damit kann ich proben", erzählt die deutsche Schauspielerin, die seit 2009 zum Ensemble des Wiener Burgtheaters gehört. Eine Absage, so Lyssewski weiter, hätte sie sich nicht verziehen, weil das Stück und die Rolle, die sie gerade einstudiert – "so geil". Denn gerade jetzt sei es für unsere Gesellschaft wichtig, nicht nur an der Oberfläche zu kratzen: "Das Theater ist dafür da, um Themen von möglichst vielen Seiten zu beleuchten."
Perspektivenwechsel
Wir treffen Lyssewski und ihre Schauspielkollegin Maresi Riegner aus dem Burgtheater-Ensemble nach dem gemeinsamen Proben in der Kantine des Akademietheaters, um über "Ellen Babić" zu sprechen. Der leitende Dramaturg Thomas Jonigk inszeniert das Stück des deutschen Gegenwartsdramatikers Marius von Mayenburg dort in seiner österreichischen Erstaufführung (seit 22. Februar im Repertoire der Burg). Das Kammerspiel greift eine aktuelle Debatte auf und erzählt von einem "ungewöhnlichen #MeToo-Fall, der Wahrheit und Fiktion, Privatheit und Öffentlichkeit, Recht und Unrecht immer mehr verschwimmen lässt".
Die Konstellation der Personen ist dabei überraschend wenig klischeehaft: Die Lehrerin Astrid (Dörte Lyssewski) und ihre ehemalige Schülerin Klara (Maresi Riegner) sind ein Paar. Im Wohnzimmer der beiden treffen sie auf Wolfram (Jörg Ratjen), Schulleiter und Astrids Vorgesetzter, der sie mit einem schwerwiegenden Vorwurf konfrontiert. Es geht um die Schülerin Ellen Babić, die behauptet, von der Lehrerin betäubt und mindestens unsittlich berührt worden zu sein. Auch Klara und Astrid waren sich damals auf einer Klassenfahrt in Trier nähergekommen. Wer aber sagt nun die Wahrheit? Wer nutzt die eigene Position aus? Und wer bestimmt, was als moralisch verwerflich gilt? Es sind Fragen wie diese, die das Stück außerhalb von fein säuberlichen Täter-Opfer-Kategorien aufwirft. Es lässt Raum für Ambivalenzen und entwickelt sich im Lauf des Abends immer mehr zu einem labyrinthischen Spiel aus Macht, Manipulation und persönlichen Interessen. Während es im realen Leben meist Männer sind, die ihre Machtpositionen für sexualisierten Missbrauch ausnutzen – unter anderem, weil sie noch immer die größere Macht (im öffentlichen Leben) haben –, wird dieser Vorwurf in "Ellen Babić" gegen eine Frau, die Lehrerin Astrid, laut.
Frauen sind nicht die netteren Menschen und können genauso Arschlöcher sein wie Männer.

Burg-Schauspielerin Dörte Lyssewski
© Christoph LiebentrittWarum dieser Perspektivenwechsel? Lyssewski dazu: "Ich finde es großartig, dass Mayenburg in Form eines genial geschriebenen Theaterstücks mal benennt, dass Frauen nicht die netteren Menschen sind und genauso Arschlöcher sein können wie Männer. Weil kein Mensch spricht darüber, dass Frauen auch gemein sind." – "Und dass sie auch Täterinnen sind", ergänzt Riegner. Wie hat sich die Debatte rund um #MeToo aus Sicht der Schauspielerinnen entwickelt? "Ganz simpel gesagt, finde ich es gut, dass Frauen – und vor allem die, die nicht von selbst die Kraft mitbringen – heute mehr Unterstützung von außen bekommen", so Riegner.
Die Diskussion sei jedenfalls älter als die Geschichte des Internets und die Erfindung von Hashtags, betont Lyssewski: "Für mich fängt sie nicht 2017 an. Die vielleicht erste #MeToo-Geschichte in der Literatur hat Heinrich von Kleist in 'Die Marquise von O…' benannt. Und das viel raffinierter und nicht so platt wie heute oft. Ich will kein Opfer in Abrede stellen, aber natürlich ist die Diskussion in einer Weise inflationär behandelt worden, unter anderem durch die Medien. Es ist gut, dass Leute nach einem halben oder ganzen Leben den Mut gefunden haben, über ihre Erfahrungen zu sprechen und das wirklich einen Tsunami losgetreten hat. Das ist sehr wichtig und richtig." Stücke wie "Ellen Babić" sieht die Schauspielerin als eine notwendige, sehr wichtige Ergänzung, die "Dinge mal ein bisschen genauer zu betrachten".
Es ist wichtig, Frauen in ihrem gesamten menschlichen Spektrum abzubilden, also auch als Täterinnen.

Burg-Schauspielerin Maresi Riegner
© Christoph LiebentrittSchonungslos
Ausgerechnet in einem Drama, das den Vorwurf sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch thematisiert, Wahrheit und Fiktion verschwimmen zu lassen – ist das ein Wagnis? "Das würde ich nicht sagen, es ist eine Herausforderung. Ich finde es in der Herangehensweise extrem kämpferisch, wie Marius von Mayenburg Sachen benennt, das spart mit nichts und schont niemanden. Weder uns noch das Publikum. Und keine Figur", so Lyssewski.
Was macht die Beziehung zwischen den drei Protagonist:innen so spannend? "Dieses Geheimnis, dass man nicht weiß: Was ist vorgefallen? Was stimmt? Was ist gelogen? Was verbindet den Direktor mit Klara? Dass jeder von ihnen ein Paket mitbringt. Dass der Direktor möglicherweise auf Astrid steht, vielleicht aber auch auf Klara. Es ist sehr komplex", erklärt Riegner. Haben wir als Gesellschaft verlernt, Widersprüche und Komplexität, wie sie in dem Stück verhandelt werden, zu ertragen? Nicht ständig zu richten, sondern versuchen zu verstehen? "Ja klar, es ist immer weniger gefragt, weil es in unserer Gesellschaft nicht mehr darum geht", sagt Lyssewski. Wie erklärt sie sich das? "Leute, die versuchen zu verstehen, sind im Weg. Die sind gefährlich. Politiker, die Macht und Leute beeinflussen wollen, halten sie möglichst dumm und unwissend. Fragen sind nicht erlaubt. Kluge Kinder auch nicht. Journalismus ist nicht gewollt. Gleichzeitig braucht man Fachkräfte, die man sich dann von woanders holt. Das hat System, da muss man nicht paranoid oder Verschwörungstheoretiker sein. Was gerade stattfindet in der Welt und hier im Lande auch, hat System. Verstehen wollen, das ist sozusagen Luxus. Wozu auch? Wir werden ruhiggestellt durch unsere Smartphones und unterhaltsam verblödet. Dann darf man noch ins Fitnessstudio gehen, um sich abzureagieren. Sonst gilt es, in der Arbeit zu funktionieren und nicht zu merken, dass man ausgebeutet und gefickt wird. Es liegt auf der Hand, dass es nicht ums Verstehen geht."
Ein ungewöhnlich politischer Appell der Künstlerin und eine Abrechnung mit populistischen Denkweisen: "Es gibt Zeiten, da gibt man andere Interviews. Jetzt nicht."