Möglichst lange leben und dabei gesund bleiben – das hat für immer mehr Menschen oberste Priorität. Healthy-Aging-Ärztin und Europas Longevity-Pionierin Karin Stengg verrät, was wir täglich tun können, um dieses Ziel zu erreichen.
Wie alt werden wir? Und wie lange können wir ein beschwerdefreies Leben führen? Wenn wir übers Älterwerden nachdenken, orientieren wir uns meist an Ereignissen, die in der Zukunft liegen. Dabei sollten wir unsere volle Aufmerksamkeit auf die Gegenwart richten. Denn: "Wie schnell und wie wir altern, haben wir zu einem großen Teil selbst in der Hand – und zwar jetzt", weiß Karin Stengg, Unfallchirurgin, Osteopathin und Präsidentin der internationalen Gesellschaft für Healthy Aging Medicine.
75 Prozent des Alterungsprozesses sind der Epigenetik geschuldet – damit sind Umweltfaktoren sowie individuelles Verhalten gemeint: "Unsere Gene bestimmen nur zu etwa 25 Prozent, wie lange wir leben werden." Alterung entsteht immer auf Zellebene: "Das sogenannte Epigenom nimmt eine wichtige Stellung bei der Steuerung des Erbguts ein und wird durch äußere Faktoren und unseren Lebensstil verändert. Die gute Nachricht ist jedoch, dass es bis in das hohe Alter veränderbar ist."
Man hat herausgefunden, dass jeder Mensch mit einer gewissen Anzahl von Zellteilungen auf die Welt kommt. "Die Longevity-Medizin hilft dabei, vermehrte Zellteilungen zu verhindern, indem sie Faktoren des Lebensstils und genetische Faktoren analysiert und daraus einen personalisierten Plan erstellt, um Schäden zu vermeiden."
Spannend: Zellen, Organe und Gewebe, die Stress spüren, erhöhen ihre Wartungs- und Reparaturprozesse als Reaktion auf den Stress. "Und diese Fähigkeit unserer Gewebe und Organe, Schäden zu regenerieren und zu reparieren, ist entscheidend für die Erhaltung der Gesundheit. Dazu sind gesunde Stammzellen notwendig." Mediziner*innen formulieren das so: Die Wiederherstellung einer ordnungsgemäßen interzellulären Kommunikation könnte die Gesundheit verlängern, indem chronische altersbedingte Entzündungen reduziert werden.
Lebensdauer verlängern und Lebensqualität steigern
Nun liegt die sogenannte "Healthspan", die Zahl der gesunden Jahre eines Menschen, in Europa bei 68, ganze zehn Jahre unter der "Lifespan", der Lebenserwartung. Genetik, Biologie, Medizin und Sozialwissenschaften entschlüsseln seit einigen Jahren die Mechanismen des Alterns, Biotech-Start-ups forschen an Medikamenten, die die Lebenserwartung des Menschen in den Bereich von 120 Jahren vorrücken sollen. Seinen Ursprung hat der Longevity-Trend in den USA, mittlerweile boomt er auch in Europa. Und das sind die fünf wichtigsten Säulen:
1. Säule: Vitalstoffreiche Ernährung
Unsere Ernährung kann Stoffwechsel und Wohlbefinden positiv beeinflussen. Auch Fasten kann intestinale Stammzellen zur Vermehrung anregen. Angestrebt wird hier der Autophagie-Prozess, eine Art körpereigenes Recycling. "Doch selbst bei abwechslungsreicher Kost sind Mängel an bestimmten Mikronährstoffen nicht ungewöhnlich", betont Expertin Stengg. Der Grund: Exogene Faktoren wie Umwelt und Klima wirken sich auf unsere Nahrungsmittel aus, in denen sich immer mehr Chemikalien, jedoch immer weniger Vitalstoffe befinden. Nicotinamid-Mononukleotid – kurz NMN – gilt als eines der Schlüsselelemente in der Anti-Aging-Forschung. Es dient als effizienter Vorläufer für NAD+, ein zentrales Molekül vieler Stoffwechselprozesse. Stengg: "Aminosäuren sind essenziell, um altersbedingten Krankheiten wie Osteoporose und Muskelschwund entgegenzuwirken."
Sie betont die Rolle der Proteostase beim Altern. Darunter versteht man, vereinfacht ausgedrückt, die Erhaltung eines gesunden Proteinbestandes in den Zellen: "Fehlgefaltete Proteine nehmen mit dem Alter zu. Protein-Fehlfaltung tritt in Gehirn und Muskeln von Alzheimer-Patienten auf. Altersbedingte Fettleibigkeit, Diabetes und andere metabolische Syndrome können die Folgen einer deregulierten Nährstofferkennung sein. Das bedeutet, dass die Zellen bestimmte Nährstoffe nicht verwerten können."
Was daher immer wichtiger wird, ist die personalisierte Medizin: "Das Coenzym Q10 zum Beispiel ist ein wirksames Antioxidans, das Reparaturprozesse fördert. Aber es kann nicht von jedem Körper aufgenommen werden. Viele Menschen nehmen wahllos zu viele Nahrungsmittelergänzungen ein, ohne sie zu benötigen. Es braucht davor also Analysen, um einen personalisierten Plan zu erstellen." Genetische und epigenetische Tests können hier Aufschluss geben.
2. Säule: Bewegung und Knochenstoffwechsel
Regelmäßige körperliche Aktivität (moderat, idealerweise 30 Minuten drei- bis fünfmal pro Woche) verringert den Abbau der Telomere. Das sind die Schutzkappen an den Enden der Chromosomen, die bei jeder Zellteilung kürzer werden. Je kürzer die Telomere, desto rascher altern wir. "Selbst wer erst mit 40, 50 oder gar 60 Jahren mit regelmäßigem Sport anfängt, kann seine Lebenserwartung steigern", weiß Stengg. Fitness-Training beeinflusst wichtige biologische Prozesse und fördert epigenetische Veränderungen der Muskulatur: "Es kann ein sogenanntes ‚Muskelgedächtnis‘ aufgebaut werden, auch wenn man danach pausiert. Bei erneutem Sport erinnern sich die Muskeln und sprechen intensiver auf das Training an."
Dies könne auch als Vorbereitung für Operationen genutzt werden: "Das Muskelgedächtnis sorgt dann nach der Krankheitsphase dafür, dass Patient*innen schneller wieder fit werden." Mit zunehmendem Alter verliert man zudem die Orientierung im Raum: Stürze sind oft die Folge. "Frühes Propriozeptorentraining – wie etwa der Einbeinstand – kann dem entgegenwirken. Man kann sagen: Bewegung ändert die Expression Tausender Gene."
3. Säule: Erholsamer Schlaf
Auch gute Schlafgewohnheiten können unsere Lebenserwartung erhöhen. "Ungestörter Schlaf ermöglicht es unserem Körper, wichtige Körper- und Zellfunktionen zu regulieren. Leider verhindert zu viel Stress oft die notwendige Regeneration", bedauert die Ärztin. Sie empfiehlt sieben bis acht Stunden Schlaf pro Nacht: "Damit reduziert man das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und anderen Zivilisationskrankheiten."
Falls man unter Ein- oder Durchschlafstörungen leidet, steht an erster Stelle eine Analyse: "Man kann dann vielleicht mit Nahrungsmittelergänzungen oder Melatonin nachhelfen, sodass man die regenerierenden Tiefschlafphasen wieder erreicht, die für die Reparaturprozesse so wichtig sind."
4. Säule: Stressmanagement
"Unser moderner Lebensstil, geprägt von Hektik und Reizüberflutung, kostet Energie und Nährstoffe", erklärt die Expertin. Sie hält auch gezielte Stress-Analysen für sehr wichtig, "um zu sehen, ob man im sogenannten Dauerfeuer steht und wie ein Hochleistungsmotor wichtige Hormone, Vitamine und Mineralstoffe mehr verbraucht, als man ausgleichen kann." Es sei mittlerweile wissenschaftlich bestätigt, dass Menschen, die mit etwa 60 Jahren noch zahlreiche Stressfaktoren in ihrem Leben haben, schneller und ungesünder altern.
Stengg betont die Wichtigkeit regelmäßiger Pausen, das Erlernen von Meditations- und Entspannungstechniken und rät dazu, möglichst viel Zeit in der Natur zu verbringen. Und insbesondere Frauen empfiehlt sie eine Portion gesunden Egoismus: "Die wenigsten trauen sich, bewusst Auszeiten für sich zu nehmen. Das wäre aber wichtig."
5. Säule: Gute Beziehungen
Eine wesentliche Bedeutung für ein langes und gesundes Leben haben auch tiefe, langlebige zwischenmenschliche Bindungen und Kontakte zu lieben Freund*innen, Kolleg*innen und Familienmitgliedern. So zeigen Langzeitstudien, dass Menschen, die in ein stabiles soziales Netz eingebunden sind, sich ehrenamtlich engagieren und erfüllenden Tätigkeiten nachgehen, eine geringere Anfälligkeit für chronische bzw. demenzielle Krankheiten und eine verbesserte Resilienz gegenüber Lebensherausforderungen haben. Gute soziale Kontakte sind zudem wunderbare Stress-Killer.
Hormone & Longevity
Hormone steuern unzählige Prozesse im Körper und ihre Konzentration nimmt mit dem Alter ab. Durch unsere gesteigerte Lebenserwartung steigt auch der Zeitraum exponentiell an, den wir im Hormonmangelzustand verbringen. Ärztin Karin Stengg: "Daher ist es wichtig, diesem Mangelzustand entgegenzuwirken – sei es mittels Hormonersatztherapie oder anderer personalisierter Therapien. Bei Frauen betrifft das die Wechseljahre, Prämenopause, Perimenopause, Menopause und Postmenopause."
Über die Autor:innen
Kristin Pelzl-Scheruga
Liebt seit 30 Jahren, was sie tut: Schreiben. Übt achtsamen Lebensstil, scheitert dabei immer wieder und lernt gerade dadurch viel. Teilt ihre Erkenntnisse und das Know-How von Expert:innen in Kolumnen, im Magazin und im Podcast "Zeit zum Reden." Lebt mit ihrer Familie in Wien.
Lisa Türk