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Die Gebärdensprache ist eine gestisch-visuelle Sprache, mit der Gehörlose kommunizieren. Wie die Gebärdensprache funktioniert, die Geschichte dahinter und mit welchen Barrieren die Gehörlosengemeinschaft in der Gesellschaft nach wie vor zu kämpfen hat. Eine, die auf die fehlende Inklusion der Hörbehinderten hierzulande aufmerksam macht, ist Bianca Rosemarie Schönhofer. Die Wienerin hat mir einige Fragen zu ihrer Gehörlosigkeit beantwortet.
Was genau ist die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS)?
In Österreich sind ca. 450.000 Menschen wegen einer Hörbehinderung in ihrer Kommunikation mit anderen beeinträchtigt, 8.000 bis 10.000 davon sind gehörlos, so der Österreichische Gebärdensprach-Dolmetscher:innen- und Übersetzer:innen-Verband (ÖGSDV) auf seiner Website. Hörbehinderte Personen, vor allem ertaubte oder hochgradig schwerhörige, verwenden hierzulande zur Kommunikation die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS).
Gebärdensprachen sind – im Gegensatz zur auditiv-verbalen Lautsprache – gestisch-visuelle Sprachen und ermöglichen die Kommunikation zwischen Gehörlosen und auch Hörenden. Je nach Land und Region, aber auch Generation unterscheiden sich die Gebärdensprachen, weltweit werden rund 300 Gebärdensprachen verwendet.
Gebärdensprachen weisen manuelle Teile (einzelne Gebärden) sowie non-manuelle Teile (Blickrichtung, Gestik, Kopf- und Körperhaltung, Mimik) auf. Sie sind nicht gleichzusetzen mit non-verbaler Kommunikation oder Pantomime.
Nationale Gebärdensprachen haben eigene Abkürzungen, so beispielsweise ÖGS (Österreichische Gebärdensprache), DGS (Deutsche Gebärdensprache) oder die ASL (American Sign Language), die als internationales Verständigungsmittel benutzt wird.
Das versteht man unter Gehörlosigkeit
Es wird zwischen prälingualer und postlingualer Gehörlosigkeit unterschieden: Eine prälinguale Ertaubung bedeutet, dass man gehörlos geboren wurde oder vor dem Spracherwerb ertaubt ist. Tritt die Gehörlosigkeit nach dem Erwerb der Sprache auf, zum Beispiel durch einen Unfall, spricht man von einer postlingualer Ertaubung, so der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) in seinem Web-Glossar.
Laut des Glossars wird die Schwere der Hörbeeinträchtigung aus medizinischer Sicht in leichte (Hörverlust von 20-40 dB), mittlere (Hörverlust von 40-60 dB) und hochgradige (Hörverlust von 70-90 dB) Schwerhörigkeit unterschieden. Einen Hörverlust von über 90 dB wird als gehörlos bezeichnet.
Kurzer Exkurs
Ab dem 18. Jahrhundert löste "gehörlos" den Begriff "taubstumm" ab, der als abwertend und diskriminierend galt bzw. gilt. Gehörlose Menschen wurden über Jahrhunderte als bildungs- sowie lernunfähig "abgestempelt", erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts durften beispielsweise gehörlose Kinder an der allgemeinen Schulbildung teilnehmen. Umgangssprachlich wird heute auch noch immer wieder "Taubstummensprache" verwendet, aber die einzig korrekte Bezeichnung ist "Gebärdensprache". Ein weiterer Begriff, der vermieden werden sollte: "Zeichensprache".
Gebärde, Fingeralphabet & Mimik
"Gebärdest du?" = "Sprichst du die Gebärdensprache?" – sich in Gebärdensprache auszudrücken bedeutet zu gebärden, so der ÖGLB. Eine einzelne Gebärde setzt sich aus Handform, Handstellung, Bewegung und Ausführungsstelle (z. B. Brust, Hals, Kopf) zusammen. Als grammatisches Element fungiert die Mimik, Fingeralphabet sowie Mundbild unterstützen das Vokabular.
Für Hörende spielt die Mimik schon eine sehr bedeutende Rolle in der Kommunikation, für Gehörlose ist sie unverzichtbar: Sie ist ein wichtiger grammatikalischer Bestandteil in den Gebärdensprachen.
Die Buchstaben eines Alphabets bilden durch unterschiedliche Fingerstellungen das Fingeralphabet ab. Als Orientierung dient dazu das Schriftbild der jeweiligen Lautsprache eines Landes. Es gibt auch ein internationales Fingeralphabet, das sich an der ASL orientiert. Da es (noch) nicht für jedes Wort eine Gebärde gibt, z. B. Eigennamen, hilft das Fingeralphabet zur Kommunikation.
Der ÖGLB beschreibt das Mundbild als die visuell wahrnehmbare Haltung des unteren Gesichtsbereichs und der Lippen bei der Produktion von Worten der gesprochenen Sprache. Sowohl bei der Verwendung der Gebärdensprache als auch beim Lippenlesen ist das Mundbild von großer Bedeutung.
Kurzer Exkurs
Mit viel Übung können Gehörlose besser als Hörende Lippenlesen, aber tatsächlich werden nur ca. 20 bis 30 Prozent des Gesprochenen verstanden. Warum? Von 26 Buchstaben sind 11 vom Mund ablesbar – das heißt: Der Großteil des Inhalts eines Gesprächs wird sozusagen aus dem Zusammenhang "erraten" (Beispiel: Das Mundbild von "Butter" und "Mutter" ist ident).
ÖGLB-Präsidentin Helene Jarmer zeigt das Fingeralphabet
Wie verhalte ich mich einer gehörlosen Person gegenüber?
Auch wenn sich das Verhalten zwischen Gehörlosen und Hörenden grundsätzlich nicht unterscheidet, empfiehlt der ÖGLB folgende Aspekte zu beachten:
• Möchtest du die Aufmerksamkeit einer gehörlosen Person wecken, stampfe auf den Boden oder klopfe beispielsweise auf den gemeinsamen Tisch. Durch die Schwingungen weiß die gehörlose Person, dass sie gemeint ist.
• Wende beim Sprechen dein Gesicht der gehörlosen Person zu und sprich deutlich, um das Lippenablesen zu erleichtern. Da aber der Inhalt trotz Lippenlesen großteils erraten wird, kommuniziere wichtige Informationen auch schriftlich, z. B. auf einem Zettel.
Geschichte der Gebärdensprache
In ihren Aufzeichnungen erwähnten in der Antike unter anderem Philosophen wie Aristoteles und Sokrates, dass gehörlose Personen mit Gebärden kommunizieren. Im 16. Jahrhundert wurde in Spanien das älteste überlieferte Fingeralphabet veröffentlicht und Mönche berichten über die Erziehung von gehörlosen Kindern. Charles-Michel de l’Epée (kurz: Abbé de l’Epée), der als Pionier der Gehörlosenpädagogik gilt, gründete im 18. Jahrhundert in Frankreich die erste Schule für Gehörlose – einer der Schüler gründete später die erste Schule für Gehörlose in Amerika.
Mit dem Mailänder Kongress (zweiter internationaler Taubstummenlehrer-Kongress) von 1880 nahm das Leben der Gehörlosen eine drastische Wende: Die anwesenden (ausschließlich hörenden) Taubstummenlehrer (die Bezeichnung war damals noch gängig) entschieden statt der Gebärdensprache ausschließlich die lautsprachliche bzw. orale Erziehung im Unterricht anzuwenden. Die gehörlosen Kinder wurden ab diesem Zeitpunkt nur noch von Hörenden unterrichtet und mussten unter anderem das Gesprochene von den Lippen ablesen – und wir erinnern uns: Von 26 Buchstaben sind nur 11 vom Mund ablesbar.
Das Verbot der Gebärdensprache blieb bis in die 1980er-Jahre in Europa bestehen. In Amerika allerdings bewies bereits 1960 der Linguist und Professor William Stokoe mit seinen Forschungen zur Gebärdensprache an der Gallaudet University in Washington, dass die ASL eine eigene Grammatik sowie Struktur aufweist und als vollwertige Sprache gilt. Diese bedeutsamen Erkenntnisse fanden, wie erwähnt, erst in den 1980er-Jahren langsam ihren Weg zu uns nach Europa. Hinweis: Die ÖGS wurde hierzulande 2005 als eigenständige und vollwertige Sprache anerkannt.
Im Jahr 2010 wurde bei der internationalen Konferenz zur Bildung und Erziehung Gehörloser (ICED) in Vancouver erstmals eine Entschuldigung für die Mailänder Beschlüsse ausgesprochen, die schwerwiegende Folgen für die Gehörlosengemeinschaft jahrzehntelang hatte. Sie wurden mit sofortiger Wirkung aufgehoben.
Internationaler Tag der Gebärdensprachen
Der International Day of Sign Languages ist ein Aktionstag, der jährlich am 23. September stattfindet.
Barrierefreiheit: wichtige Voraussetzung für Inklusion und Teilhabe
Voraussetzung für ein gleichberechtigtes Leben ist eine barrierefreie Umwelt ohne Diskriminierung: Im ersten Moment denkt man vielleicht an bauliche Maßnahmen, wie zum Beispiel Aufzüge oder Rampen für Rollstuhlfahrer:innen. Aber zur Barrierefreiheit gehört viel mehr.
Für Gehörlose, Schwerhörige und Taubblinde sind unter anderem die Verfügbarkeit von Texten in Brailleschrift (Blindenschrift) oder leichter Sprache, Gebärdensprachdolmetschung oder taktile sowie visuelle Kommunikationssysteme sehr wichtige Voraussetzungen für Inklusion und Teilhabe, so der ÖGLB.
Für die Beseitigung von Benachteiligung und Diskriminierung von Gehörlosen im beruflichen sowie privaten Umfeld setzt sich seit 1913 der Österreichische Gehörlosenbund ein. Wie der ÖGLB auf seiner Website schreibt, ist nicht das Nicht-Hören-Können das "Problem", sondern die umgebenden Barrieren.
Türkiser Ribbon
Ein Symbol für die ÖGS ist der Türkise Ribbon, der Ende 2004 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Er gilt als Zeichen der Wertschätzung für die Gehörlosenkultur sowie Ausdruck der Relevanz der ÖGS.
Bianca Rosemarie Schönhofer: "Don't be shy! Wir beißen nicht."
"Meine Gehörlosigkeit hat meine Perspektive auf das Leben sehr beeinflusst", so Bianca Rosemarie Schönhofer. Die Wienerin, deren Hörvermögen seit einer Mittelohrentzündung stark beeinträchtigt ist, erzählt weiter: "Von zahlreichen Herausforderungen und Barrieren im Alltag bis zur tagtäglichen Diskriminierung. Wir werden noch immer in manchen Bereichen benachteiligt, sowohl im Arbeitsalltag als auch in der Gesellschaft. Doch, das hindert mich trotzdem nicht daran, mein Leben so zu leben, wie ich leben will. Ich lasse nicht zu, dass sie aufgrund meiner Behinderung meine Ziele und Träume behindert."
Und diese Einstellung strahlt die 30-Jährige auch aus, sieht man sich ihren Instagram-Account an. Eine selbstbewusste Frau, die andere dazu ermutigt, sich so zu lieben, wie man ist. Als sie gehörlos wurde, lernte sie die Gebärdensprache sowie das Lippenlesen und so kommuniziert sie auch mit ihren Instagramfollower:innen in der ÖGS.
Nicht nur aufgrund ihrer Gehörlosigkeit ist Bianca Mutmacherin und Vorbild für andere, sondern auch wegen ihrer Pigmentstörung. Als Kleinkind bekam die Tochter einer Nigerianerin und eines Österreichers die seltene Hautkrankheit Vitiligo. Zu Schulzeiten wurde sie für ihre weißen Flecken gehänselt, heute sind sie ihr Markenzeichen und Bianca ist als erfolgreiches Vitiligo-Model tätig.
Wie geht Bianca mit Missverständnissen oder Vorurteilen bezüglich ihrer Gehörlosigkeit um? "Es gibt Menschen, die glauben noch immer, dass wir geistig zurück geblieben sind, weil wir nicht reden können. Dabei reden wir durch unseren Hände, Mimik und Gestik. Wir können genauso auch über bestimmte Themen, wie Politik, Finanzen, Wissenschaft etc. diskutieren. Und wenn wir dann "zu wenig" informiert sind, dann weil ihr uns behindert, indem ihr zum Beispiel im Instagram keine Untertitel erstellt bzw. zur Verfügung stellt."
Sie erzählt weiter: "Oft kommt es vor, dass Menschen einer gehörlosen Person begegnet sind, sehr schnell überfordert werden, weil sie eben nicht wissen, wie sie damit umgehen. Und somit geben sie schnell auf, das Gespräch weiterzuführen. Sie sind nicht genug oder gar nicht aufgeklärt. Wir sind auch Menschen und haben Bedürfnisse, mit hörenden Menschen zu kommunizieren, wenn sie uns entgegenkommen."
Welche Ratschläge würde Bianca daher hörenden Menschen geben, um die Kommunikation miteinander zu erleichtern? "Don't be shy! Wir beißen nicht. Heutzutage sind wir mit Technologie wirklich voraus. Um Kommunikation zu erleichtern, gibt es viele Möglichkeiten wie zum Beispiel, auf dem Handy eine Notiz zu schreiben oder auf Zetteln, Face-to-face-Gespräche, da wir auch auf Lippenlesen angewiesen sind (heißt auch nicht, dass wir 100 % alles ablesen können, da manchen Wörter identisch sind beim Ablesen wie "Mutter" und "Butter")."
Sie fügt hinzu: "Was noch toller wäre, Gebärdensprache zu lernen. Die Gebärdensprache ist wirklich eine schöne und expressive Sprache. Sie hat sogar eine eigene Grammatik und ein eigenes Vokabular." Ihr Tipp: "Einfachster Weg, frage bei der Person nach, wie ihr am besten und einfachsten für euch beiden kommunizieren könnt."
Bianca zeigt "7 Days" von Craig David in der ÖGS
Apropos Songs: Die Performance der schwerhörigen Gebärdensprachdolmetscherin Justina Miles, die Rihannas Halbzeitshow beim Super Bowl 2023 gebärdete, ging im Netz viral. Justina war außerdem die erste schwarze Gebärdensprachdolmetscherin in der Geschichte des Super Bowls.
Zurück zu Bianca: Gibt es technologische Hilfsmittel, die sie in ihrem Alltag verwendet? Ja! "Ich trage in meinem Alltag am rechten Ohr ein Hörgerät. Selbst wenn ich ein Hörgerät trage, heißt es auch nicht, dass ich 100 % oder "normal" höre. Ich nehme dadurch einfach mehr Geräusche wahr. Wie zum Beispiel höre ich, dass die Menschen in meinem Umfeld reden, aber ich verstehe nicht, WAS sie sagen. Oder ich höre irgendwo ein Piepsen, kann aber nicht hören, woher es kommt."
Sie erzählt weiter: "Manchmal kommt es auch vor, dass ich kurzfristig einen wichtigen Termin habe oder Meeting, da werde ich keine Gebärdensprachdolmetscher:in auf die Schnelle finden. Ich muss notfallsweise mein Macbook mitnehmen, dann Word aufmachen und das Diktiergerät benutzen. Da wird von Wort zu Wort alles aufgezeichnet und in Schrift umgesetzt. Ähnlich wie Live-Untertitel. Ebenfalls ist es auch nicht immer 100 % richtig übersetzt, da manchmal auch vorkommt, dass die Menschen Dialekt reden oder eben undeutlich."
Wie wichtig es ist, Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Teilhabe im Alltag und Beruf zu gewährleisten, betont Bianca als Speakerin auf dem 4GAMECHANGERS Festival 2023.
Helene Jarmer – ein persönliches Vorbild, das Bianca in Bezug auf ihre Gehörlosigkeit inspiriert
Die in Wien geborene Helene Jarmer, die seit ihrem zweiten Lebensjahr aufgrund eines Unfalls gehörlos ist, war für die Grünen von 2009 bis 2017 die erste gehörlose Frau im österreichischen Nationalrat – weltweit die dritte. Ihr ist es unter anderem zu verdanken, dass seit 2009 die Fernsehübertragungen des ORF aus dem Parlament auch in Gebärdensprache angeboten werden.
Seit 2001 setzt sie sich als Präsidentin des ÖGLB für die uneingeschränkte Chancengleichheit für Gehörlose, Schwerhörige sowie Taubblinde in allen Lebenslagen ein. Einer ihrer größten Erfolge: die verfassungsrechtliche Anerkennung der ÖGS.
Buchtipp: "Schreien nützt nichts: Mittendrin statt still dabei" von Helene Jarmer
Helene Jarmer stellt sich vor
Auch wenn sich Mutmacherinnen wie Bianca Rosemarie Schönhofer und Helene Jarmer für die Sensibilisierung der Gesellschaft für die Bedürfnisse der Gemeinschaft der Gehörlosen einsetzen, sind wir in vielen Belangen noch weit von einer Chancengleichheit für alle entfernt. Die mangelnde Inklusion fängt im Schulsystem an und reicht bis zu den Berufschancen.
Wenn du selbst aufgrund deiner Gehörlosigkeit diskriminiert wirst, sei es im Alltag, im Beruf oder in der Schule bzw. mitbekommst, dass jemand Hilfe braucht, wende dich an folgende Anlaufstellen.
Möchtest du die Gebärdensprache lernen, findest du hier österreichweite ÖGS-Kurse.
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